Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
kämpfte zwei Minuten lang mit sich. Sollte er sie verlassen und nach Hamburg zurückfahren, oder sollte er sein Seelenheil aufs Spiel setzen und einen letzten Versuch unternehmen, Eduard Roschmann mit Hilfe des Fälschers aufzuspüren?
Er beugte sich vor.
»Mein Kind, ich bin bereit, Ihre Beichte zu hören.«
Da begann sie zu reden. Mit matter, monotoner Stimme berichtete sie ihre Lebensgeschichte. Sie war im Jahre 1910 in Bayern geboren und aufgewachsen; sie erinnerte sich noch daran, wie ihr Vater in den Ersten Weltkrieg gezogen und vier Jahre später voller Bitterkeit über die Kapitulation in Berlin heimgekehrt war.
Sie erinnerte sich der politischen Wirren in, den frühen zwanziger Jahren und des mißglückten Putschversuchs in München, als eine von einem Straßenredner namens Adolf Hitler angeführte Gruppe von Männern die Regierung hatte stürzen wollen. Später war ihr Vater der Partei dieses Mannes beigetreten, und als sie dreiundzwanzig wurde, hatte der Straßenredner bereits in ganz Deutschland die Macht erobert und war zum bejubelten Führer der fanatisierten Massen geworden. Sie arbeitete als Sekretärin im Amt des Gauleiters von Bayern und besuchte die Tanzabende mit den schmucken, blonden jungen Männern in den schönen Uniformen.
Aber sie war ein häßliches, lang aufgeschossenes, knochiges Mädchen mit eckigen Bewegungen, einem Pferdegesicht und einem leichten Lippenbart. Sie trüg das mausfarbene Haar zu einem Knoten im Nacken zusammengebunden und bevorzugte wetterfeste Kleidung und Gesundheitsschuhe. Mit Ende zwanzig war sie sich darüber im klaren gewesen, daß sie keine Aussichten hatte, einen Mann zum Heiraten zu finden, wie die anderen Mädchen im Dorf. 1939 wurde sie als Aufseherin in das Konzentrationslager Ravensbrück dienstverpflichtet.
Sie berichtete von den Menschen, die sie geschlagen hatte, von den Tagen ihrer Macht über andere, von den Exzessen der Grausamkeit im Lager, während ihr die Tränen über die Wangen liefen und sie Millers Hand umklammerte, als wolle sie ihn festhalten, bis sie ihre Beichte beendet hatte.
»Und nach dem Krieg?« fragte er leise.
Sie war jahrelang umhergeirrt. Von der SS verlassen, von den Alliierten gejagt, hatte sie als Küchenhilfe gearbeitet und bei der Heilsarmee geschlafen. 1950 begegnete sie Winzer. Er wohnte in einem Hotel, wo sie als Kellnerin arbeitete, und suchte in Osnabrück nach einem Haus, das er kaufen wollte. Er kaufte sein Haus, das kleine Neutrum von einem Mann, und schlug ihr vor, zu ihm zu ziehen und ihm den Haushalt zu führen.
»Ist das alles?« fragte Miller, als sie schwieg.
»Ja, Vater«, sagte sie.
»Mein Kind, Sie wissen, daß ich Ihnen die Absolution nicht erteilen kann, wenn Sie nicht alle Ihre Sünden gebeichtet haben.«
»Das ist wirklich alles, Vater.«
Miller holte tief Luft.
»Und was ist mit den gefälschten Pässen? Die Pässe, die er für die flüchtigen SS-Männer ausgestellt hat?«
Sie blieb eine Weile stumm, und er fürchtete schon, daß sie wieder das Bewußtsein verloren hatte.
»Das wissen Sie, Vater?«
»Ja, mein Kind, ich weiß es.«
»Ich habe sie nicht gefälscht«, sagte sie.
»Aber es ist Ihnen bekannt, was Klaus Winzer getan hat.«
»Ja«, flüsterte sie.
»Er ist verschwunden. Er ist abgereist«, sagte Miller.
»Nein. Nicht verschwunden. Nicht Klaus. Das würde er nie tun. Er kommt zurück.«
»Wissen Sie, wohin er gefahren ist?«
»Nein, Vater.«
»Sind Sie sich auch ganz sicher, mein Kind? Man hat ihn dazu gezwungen, wegzufahren. Wohin kann er gefahren sein?«
»Ich weiß es nicht, Vater. Wenn sie ihm drohen, spielt er die Akte gegen sie aus. Er hat mir gesagt, daß er das tun würde.«
Miller fuhr zusammen. Er blickte auf die Frau hinunter. Sie hatte die Augen geschlossen, als schlafe sie.
»Welche Akte, mein Kind?«
Sie sprachen noch fünf Minuten miteinander, dann wurde leise an die Tür geklopft. Miller löste sein Handgelenk aus dem Griff der Frau und stand auf, um zu gehen.
»Vater …«
Die Stimme klang klagend, bittend. Er wandte sich zu ihr um. Sie starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an.
»Segnen Sie mich, Vater.«
Der Tonfall war beschwörend. Miller seufzte. Es war eine Todsünde. Er konnte nur hoffen, daß irgendwer irgendwo alles verstehen würde. Er hob die Rechte und machte das Zeichen des Kreuzes.
»In nomine Patris, et Filii, et Spiritus Sancti. Ego te absolvo a peccatis tuis.«
Die Frau seufzte tief auf, schloß die Augen und verfiel wieder in
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