Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
meine Schuld.«
Miller hatte vergessen, den Weckruf abzubestellen, um den er am Abend zuvor gebeten hatte, bevor er Sigi anrief. Um 9 Uhr schrillte das Telefon neben dem Bett. Verschlafen meldete er sich, dankte mit undeutlichem Gemurmel und stand auf. Er wußte, daß er sofort wieder einschlafen würde, wenn er auch nur eine Minute länger im Bett blieb. Sigi, erschöpft von der Autofahrt und von der Liebe und überwältigt von dem Glück, endlich verlobt zu sein, schlief noch ganz fest.
Miller duschte erst heiß und dann minutenlang kalt, rieb sich mit dem Handtuch, das er über Nacht auf der Heizung gelassen hatte, kräftig ab und fühlte sich großartig. Die Bedrücktheit und die Angst, die am Abend zuvor auf ihm gelastet hatten, waren verflossen. Er fühlte sich fit und zuversichtlich.
Erzog sich Hose und knöchelhohe Stiefel, einen dicken Rollkragenpullover und darüber eine zweireihige dunkelblaue Joppe an. Sie hatte Augentaschen, in denen Platz genug für den Revolver und die Handschellen war, und eine innere Brusttasche, in die er das Photo steckte. Er holte die Handschellen aus Sigis Reisetasche und untersuchte sie. Einen Schlüssel gab es nicht; die Handfesseln schnappten selbsttätig zu, und wem sie einmal angelegt wurden, der blieb gefesselt, bis ihn die Polizei oder eine Metallsäge befreite.
Die Pistole hatte er noch nie abgefeuert, und das Innere des Laufs war noch immer mit dem Waffenöl der Herstellerfirma eingefettet. Das Magazin war gefüllt, und er ließ es so. Um sich mit der Waffe wieder vertraut zu machen, betätigte er den Verschluß ein paarmal, vergewisserte sich, wie gesichert und entsichert wurde, drückte das Magazin in den Griff, beförderte die erste Kugel in die Kammer und sicherte die Waffe. Den Zettel mit der Telefonnummer des Staatsanwalts in Ludwigsburg steckte er sich in die Hosentasche.
Er holte den Attachékoffer unter dem Bett hervor und nahm einen Bogen weißes Papier heraus, um Sigi eine Nachricht zu hinterlassen. Er schrieb: »Mein Liebling, ich gehe jetzt los, um den Mann zu stellen, den ich gejagt habe. Ich habe meine Gründe, weswegen ich ihm ins Gesicht sehen und dabei sein will, wenn die Polizei kommt, um ihn in Handschellen abzuführen. Es sind gute Gründe, und heute nachmittag werde ich sie Dir erklären können. Auf alle Fälle aber schreibe ich Dir hier auf, was Du tun sollst …« Die Anweisungen waren präzise und klar. Er schrieb ihr die Münchener Telefonnummer auf, die sie anrufen, und die Nachricht, die sie dem Mann, der sich unter der angegebenen Nummer meldete, übermitteln sollte. Sein Brief schloß: »Fahre mir unter keinen Umständen nach, das würde die Dinge nur verschlimmern, wie immer auch die Situation sein mag. Wenn ich also bis Mittag nicht zurück bin oder Dich nicht im Hotelzimmer angerufen habe, ruf die Münchener Nummer an, gib die Nachricht durch, verlasse das Hotel, steck den Umschlag in Frankfurt in irgendeinen Briefkasten und fahr dann nach Hamburg zurück. Verlob dich inzwischen nicht mit einem anderen. Alles Liebe, Peter.«
Er legte den Brief zusammen mit dem Umschlag mit der ODESSA-Akte und drei Fünfzigmarkscheinen auf den Nachttisch. Dann klemmte er sich Salomon Taubers Tagebuch unter den Arm, verließ leise das Zimmer und ging nach unten. Im Vorübergehen bat er den Portier in der Rezeption, den Weckanruf um 11 Uhr 30 noch einmal zu wiederholen.
Er trat um 9 Uhr 30 aus dem Hotel und war überrascht über die Schneemengen, die über Nacht gefallen waren. Er ging um das Gebäude herum zum Parkplatz, kletterte in den Jaguar und drückte auf den Anlasser. Es dauerte einige Minuten, bis der Motor ansprang. Während er warm lief, holte Miller einen Handbesen aus dem Kofferraum und fegte die dicke Schneedecke von Kühler, Dach und Windschutzscheibe.
Dann setzte er sich ans Steuer, legte den Gang ein und fuhr auf die Hauptstraße hinaus. Der dicke Schneeteppich auf der Fahrbahn knirschte unter den Reifen. Am Abend vorher hatte er sich noch kurz vor Ladenschluß ein Meßtischblatt der Gegend besorgt. Er warf einen Blick darauf und nahm dann die Straße nach Limburg.
Kapitel 16
Nach einem strahlenden Sonnenaufgang hatte es sich rasch bezogen. Unter den grauen Wolken glitzerte der Schnee auf den Bäumen, und von den Bergen her wehte ein scharfer Wind.
Die Straße führte in Windungen bergaufwärts und verlor sich gleich hinter dem Städtchen im Romberg-Wald. Die Schneedecke auf der Fahrbahn war makellos weiß und nur
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