Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
von einer einzigen Spur gezeichnet. Sie stammte von einem motorisierten Kirchgänger, der vor einer Stunde nach Königstein zum Gottesdienst gefahren war.
Miller bog in die Abzweigung nach Glashütten ein, umrundete die Abhänge des alles überragenden Feldbergs und fuhr die Straße nach der Ortschaft Schmitten hinunter. An den Bergabhängen heulte der Wind durch die Kiefern; er steigerte sich zu einem gellenden Klageton aus dem verschneiten Geäst.
Nach zwanzig Minuten zog Miller noch mal die Karte zu Rate und suchte eine Einfahrt, die von der Straße zu einem Privatanwesen führte. Wie sich dann herausstellte, handelte es sich um ein verriegeltes Gatter, an dem ein Schild mit der Aufschrift »Privatbesitz, Betreten verboten« befestigt war. Miller kletterte bei laufendem Motor aus dem Wagen, schob den Riegel zur Seite, schwang das Gatter zurück und steuerte den Jaguar auf den tiefverschneiten Waldweg. Miller fuhr im ersten Gang, denn unter der Schneedecke war nur gefrorener Sand. Zweihundert Meter weiter den Pfad hinauf war in der vergangenen Nacht unter der Last einer halben Tonne Schnee ein Ast von einer mächtigen Eiche abgebrochen. Er war in das Dickicht neben dem Pfad gestürzt und hatte einen dünnen schwarzen Mast umgerissen, der jetzt quer über dem Fahrweg lag.
Miller fuhr vorsichtig weiter und spürte den zweimaligen Stoß, als die Vorder- und dann die Hinterräder über den Mast hinwegrollten.
Der Weg mündete in eine Lichtung mit dem Landhaus und dem Garten. Miller hielt vor der Haustür an, stieg aus und drückte auf die Klingel.
Nach dem letzten Satz des Werwolfs legte Klaus Winzer in seinem Arbeitszimmer in Osnabrück den Hörer auf und ging an seinen Schreibtisch. Er war ganz ruhig. Zweimal schon hatte ihm das Leben übel mitgespielt, zuerst mit der Vernichtung seiner Falschgeldvorräte bei Kriegsende und dann mit der Entwertung seines Papiergeld-Vermögens im Jahre 1948. Jetzt geschah es zum drittenmal. Er holte seine alte, aber verläßliche Luger aus der untersten Schreibtischlade, steckte sich den Lauf in den Mund und drückte ab. Das Bleigeschoß, das ihm den Kopf zerriß, war keine Fälschung.
Regungslos saß der Werwolf da und starrte auf das summende Telefon. Er dachte an die Männer, denen Klaus Winzer falsche Pässe ausgestellt hatte. Sie standen alle auf der Fahndungsliste und mußten mit Verhaftung und Aburteilung rechnen, wenn sie gefaßt wurden. Die Aufdeckung der geheimen Dossiers Klaus Winzers würde eine Serie neuer Prozesse auslösen. Die Folgen waren gar nicht auszudenken.
Seine vordringlichste Aufgabe war, Roschmann zu warnen, denn Roschmann stand auf der Winzer gestohlenen Liste. Dreimal versuchte er vergeblich das Haus im Taunus telefonisch zu erreichen – die Nummer war jedesmal besetzt. Schließlich wandte er sich an die Störungsstelle, die ihm wenig später mitteilte, daß die Leitung unterbrochen sei.
Daraufhin rief er das Hohenzollern-Hotel in Osnabrück an. Mackensen war schon beim Aufbruch. In wenigen Sätzen unterrichtete er den Killer über die jüngste Katastrophe und beschrieb ihm, wo Roschmann lebte. »Ihre Bombe scheint nicht funktioniert zu haben«, sagte er. »Fahren Sie so rasch wie möglich dorthin, stellen Sie Ihren Wagen irgendwo ab, wo man ihn nicht sieht, und weichen Sie Roschmann nicht von der Seite. Wir haben ihm bereits einen Leibwächter mitgegeben. Wenn Miller mit dem, was er in der Hand hat, schnurstracks zur Polizei geht, sind wir geliefert. Aber wenn er zu Roschmann kommt, überwältigen Sie ihn und bringen Sie ihn zum Reden. Bevor er stirbt, müssen wir erfahren, was er mit den Papieren gemacht hat.«
Mackensen warf einen Blick auf seine Straßenkarte und schätzte die Entfernung ab.
»Um 1 Uhr bin ich da«, sagte er.
Miller klingelte noch mal, und dann wurde die Tür geöffnet. Eine Welle warmer Luft drang aus der Halle. Der Mann, der vor ihm stand, mußte aus seinem Arbeitszimmer gekommen sein. In der Halle stand eine Türe offen. Lange Jahre bequemen Wohllebens hatten den einstmals schlanken SS-Führer korpulent werden lassen. Sein Gesicht war vom Alkohol oder von der Landluft gerötet und sein Haar an den Schläfen ergraut. Er sah aus wie der Prototyp des wohlhabenden Bürgers in mittleren Jahren, der sich denkbar bester Gesundheit erfreut. Aber sein Gesicht war, obwohl verändert, in mancher Einzelheit, in den Grundzügen doch das gleiche geblieben, das Tauber gekannt und beschrieben hatte. Roschmann musterte Miller
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