Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
gab es dutzendweise in jedem Krankenhaus. Sie sah rasch in der Kartei nach, entdeckte den Namen Kolb an Hand eines Heftordners und gab ihn dem Internisten. Das Telefon klingelte, und sie eilte an den Apparat.
Der Internist setzte sich und blätterte in dem Krankendossier. Es besagte, daß Kolb auf der Straße kollabiert war und im Krankenwagen eingeliefert wurde. Schon die erste Untersuchung hatte einen eindeutigen Befund ergeben – Magenkarzinom in weit fortgeschrittenem Stadium mit mutmaßlicher Metastasenbildung. Man war übereingekommen, von einer Operation abzusehen. Der Patient wurde zunächst noch mit Medikamenten behandelt, die man aber bald durch schmerzlindernde Mittel ersetzte. Das letzte Blatt der Krankengeschichte vermerkte lediglich:
»Patient in der Nacht vom 8. auf den 9. Januar verstorben. Todesursache: Magenkarzinom. Keine Angehörigen. Überführung des Toten in die Städtische Leichenhalle erfolgte am 10. Januar.«
Unterzeichnet vom zuständigen Stationsarzt.
Der neue Internist löste das letzte Blatt aus dem Heftordner und fügte an seiner Stelle ein neues ein, und zwar mit neuem Text. Es lautete: »Trotz des bedenklichen Zustandes, in dem Patient eingeliefert wurde, sprach das Karzinom auf die verabfolgten Medikamente überraschend gut an. Da hinsichtlich der Transportfähigkeit des Patienten keine gravierenden Bedenken bestanden, wurde er am 16. Januar auf eigenen Wunsch zu weiterer Genesung in die Arcadia-Klinik Delmenhorst verlegt.«
Die Unterschrift: ein unleserlicher Schnörkel.
Der Internist gab der Registraturangestellten den Heftordner zurück, dankte ihr mit einem freundlichen Lächeln und ging. Es war der 22. Januar.
Drei Tage später erhielt Leon eine Information. Es war das letzte noch fehlende Mosaiksteinchen in seinem privaten Geduldsspiel. Ein Angestellter eines Reisebüros in Norddeutschland benachrichtigte ihn, daß ein gewisser Bäckereibesitzer in Bremerhaven soeben Tickets für sich und seine Frau gebucht habe für eine Winterkreuzfahrt im Karibischen Meer. Am 16. Februar wollte das Ehepaar in Bremerhaven an Bord gehen und vier Wochen lang in westindischen Gewässern umherkreuzen. Leon wußte, daß der Mann im Krieg SS-Standartenführer gewesen war. In der Nachkriegszeit wurde er Mitglied der ODESSA. Er befahl Motti, die Buchhandlungen abzuklappern. Er mußte ein Standardwerk über die Kunst der Brotbäckerei auftreiben.
Der Werwolf war ratlos. Seit nahezu drei Wochen hielten seine Beauftragten in allen größeren Städten Westdeutschlands Ausschau nach einem Mann namens Miller und dessen schwarzem Jaguar-Sportwagen. In Hamburg wurden Millers Wohnung und seine Garage ständig beobachtet. Der in Osdorf wohnhaften Frau mittleren Alters hatte man einen Besuch abgestattet. Aber sie hätte erklärt, daß sie nicht wisse, wo ihr Sohn sei. Wiederholt war – angeblich im Auftrag des Chefredakteurs einer großen Illustrierten, der Miller einen einträglichen Auftrag zu erteilen wünschte – bei einem Mädchen namens Sigi angerufen worden. Aber auch sie hatte gesagt, sie wisse nicht, wo ihr Freund sei.
Miller blieb unauffindbar. Es war schon der 28. Januar. Der Werwolf sah sich widerstrebend zu einem Anruf genötigt. Schweren Herzens nahm er den Hörer zur Hand, um das Gespräch zu führen.
Weit weg in den Bergen des Taunus legte eine halbe Stunde später ein Mann den Hörer auf die Gabel und fluchte minutenlang vor sich hin. Es war Freitagabend, und er war gerade eben erst zu einem zweitägigen Wochenendbesuch auf seinem Landsitz angekommen.
Er ging an das Fenster seines elegant eingerichteten Arbeitszimmers und blickte hinaus. Der Lichtschein des Fensters fiel auf das dicke Schneepolster auf dem Rasen und reichte bis an die Kiefern heran. Es standen fast ausschließlich Kiefern auf seinem Grundstück.
Er hatte sich schon immer gewünscht, so zu leben. In einem schönen Haus auf einem Privatgrundstück in den Bergen. Er hatte diesen Wunsch, seit er als Knabe in den Weihnachtsferien die Häuser der Reichen in den Bergen um Graz gesehen hatte. Jetzt gehörte ihm selbst ein solches Haus, und das gefiel ihm.
Es war besser als das Reihenhaus eines Brauereimeisters, in dem er aufgewachsen war; besser als das Haus in Riga, in dem er fast vier Jahre lang gewohnt hatte; besser auch als ein möbliertes Zimmer in Buenos Aires oder ein stickiges Hotelzimmer in Kairo. Es war genau das, was er sich immer gewünscht hatte.
Das Telefongespräch hatte ihn beunruhigt.
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