Die Akte ODESSA: Thriller (German Edition)
gab ihm noch ein Buch –, »Sie können auch gleich das Bäckerhandwerk erlernen. Das ist nämlich seit 1945 Ihr Beruf – Angestellter in einer Bäckerei.«
Er erwähnte nicht, daß der Bäckereibesitzer nur vier Wochen abwesend war – danach hing Millers Leben an einem seidenen Faden.
»Und jetzt, mein Freund«, sagte er zu Miller, »wird der Friseur Ihr Äußeres ein wenig verändern, und danach machen wir ein Photo von Ihnen für den Führerschein.«
Im Badezimmer wurde Miller der kürzeste Haarschnitt seines Lebens verpaßt. Als der Friseur sein Werk vollendet hatte, schimmerte die weiße Kopfhaut durch die millimeterkurzen Borsten. Das leicht zerzauste Aussehen, das ihm seine Haartracht verliehen hatte, war verschwunden; dafür sah er jetzt viel älter aus. Ein messerscharfer Scheitel teilte das kurze Haar links. Seine Augenbrauen wurden gezupft, bis sie kaum noch vorhanden waren.
»Nackte Augenbrauen machen zwar nicht älter«, sagte der Friseur, »aber sie erschweren es, das Alter eines Mannes genauer zu schätzen. Und noch etwas. Sie lassen sich ein Bärtchen wachsen. Ein dünnes Bärtchen auf der Oberlippe, scharf ausrasiert. Das gibt Ihnen noch ein paar Jahre dazu, wissen Sie. Können Sie sich das Bärtchen in drei Wochen wachsen lassen?«
»Kann ich«, sagte Miller. Er starrte in den Spiegel. Ein Mann von Mitte Dreißig sah ihn an. Das Bärtchen auf der Oberlippe würde ihn um weitere vier Jahre älter aussehen lassen.
Als sie nach unten kamen, mußte sich Miller vor einen großen weißen Bogen Papier stellen, den Oster und Leon an die Wand hielten, während Motti mehrere En-face-Aufnahmen von ihm machte.
»Das genügt«, sagte er. »In drei Tagen ist der Führerschein fertig.«
Die Gesellschaft brach auf, und Oster wandte sich wieder seinem Schüler zu.
»Kolb«, sagte er – bei seinem richtigen Namen nannte er Miller schon lange nicht mehr –, »Sie haben Ihre Grundausbildung im SS-Ausbildungslager Dachau erhalten, wurden im Juli 1944 zum Konzentrationslager Flossenbürg überstellt und befehligten im April 1945 das Exekutionskommando, das Admiral Canaris henkte. Darüber hinaus waren Sie an der Hinrichtung einer Anzahl weiterer Wehrmachtsoffiziere beteiligt, die von der SS wegen der Verschwörung vom 20. Juli 1944 der Mittäterschaft am Anschlag auf das Leben des Führers verdächtigt wurden. Kein Wunder, daß die Justiz es auf Sie abgesehen hat. Admiral Canaris und seine Männer waren schließlich keine Juden das sollte man nicht vergessen. Wo waren wir stehengeblieben, Unterscharführer?«
Die wöchentliche Zusammenkunft der Mossad-Chefs war praktisch bereits beendet, als General Amit noch mal die Hand hob. »Eines sollte ich hier vielleicht doch erwähnen, obwohl ich der Angelegenheit keine allzu große Bedeutung beimesse. Leon berichtet aus München, daß er seit einiger Zeit einen jungen Deutschen schulen läßt, der aus persönlichen Gründen einen Groll gegen die SS hegt und bereit ist, sich in die ODESSA einschmuggeln zu lassen.«
»Sein Motiv?« fragte einer der Männer mißtrauisch.
General Amit zuckte mit den Achseln.
»Aus persönlichen Gründen ist er entschlossen, einen ehemaligen SS-Hauptsturmführer namens Roschmann aufzuspüren.«
Der Leiter des Referats, das für diejenigen Länder zuständig war, in denen Judenverfolgungen stattfanden, riß den Kopf herum.
»Eduard Roschmann? Den Schlächter von Riga?«
»Ja. Das ist der Mann.«
»Wenn es gelänge, den zu fassen, könnten wir eine alte Rechnung begleichen.«
General Amit schüttelte den Kopf.
»Ich habe bereits erklärt, daß wir aus dem Vergeltungsgeschäft ausgestiegen sind. Meine Instruktionen lassen keinerlei Ausnahmen zu. Selbst wenn Roschmann gefaßt wird, darf es keinen Racheakt geben. Nach der Ben-Gal-Affäre würde ein weiterer Zwischenfall dieser Art für Adenauer verhängnisvolle Folgen haben und ihn möglicherweise zur Kündigung des Waffenlieferungsabkommens veranlassen. Das eigentlich Fatale an der Situation ist, daß es unweigerlich israelischen Agenten in die Schuhe geschoben werden wird, wenn in Deutschland jetzt irgendein x-beliebiger Exnazi stirbt.«
»Wie soll also im Fall des jungen Deutschen verfahren werden?« fragte der Shabak-Chef.
»Ich will versuchen, ihn auf die Identifizierung weiterer Naziwissenschaftler anzusetzen, die im Lauf dieses Jahres vorhaben, nach Kairo zu gehen. Für uns hat das absolute Priorität. Ich schlage vor, wir schicken einen Agenten nach Westdeutschland,
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