Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
»Sind Sie sicher, keine übersehen zu haben?«
»Herr Kommissar, glauben Sie mir: Ich habe alle durchgeblättert, Seite für Seite!«
Rath wandte sich an den Pförtner. »Es muss hier doch irgendein Verzeichnis geben, in das eingetragen wird, welche Akten entnommen worden und welche wieder zurückgekommen sind, oder?«
»Sicher. Aber nicht im Findbuch. Das Entnahmebuch liecht vorne.«
»Schön, dann schauen wir mal da hinein.«
»Ich wejß nich, ob ich befugt bin …«, wollte Pförtner Feibler wieder loslegen, doch Rath unterbrach ihn.
»Hören Sie, guter Mann: Ich weiß nicht, ob Sie das verstehen, aber wir drei hier sind allesamt Polizisten. Wir sind die Guten! Wir wollen hier nichts stehlen und auch sonst nichts Böses.«
Der Pförtner schaute Grigat fragend an.
»Der Herr Kommissar aus Berlin hat recht, Feibler. Lassen Sie uns einen Blick in das Entnahmebuch werfen.«
Man konnte der Registratur nicht vorwerfen, dass hier keine Ordnung herrschte. Unter dem heutigen Datum waren hundertsieben Ermittlungsakten vermerkt, mitsamt Aktenzeichen und Archivsignatur, die Akten, die Grigat hatte holen lassen. Rath verglich die Ziffernfolgen mit denen in seinem Notizbuch, doch er konnte keine Übereinstimmung finden.
»Verdammt«, sagte er. »Die Akte muss jemand anders entnommen haben.«
Er blätterte zurück und überflog die Seiten des Entnahmebuchs, achtete nur auf die letzten beiden Ziffern in der Aktenzeichenspalte. In den vergangenen Monaten waren nur Akten aus den vergangenen zwei Jahren entnommen worden, doch dann tauchten nach und nach auch ältere Jahreszahlen auf. Rath hatte schon einige Seiten zurückgeblättert, da endlich blieb sein Finger bei der Ziffernfolge 24 stehen. Er schaute in sein Notizbuch, die Aktenzeichen stimmten überein, er hatte es gefunden!
Die Entnahme der Ermittlungsakte II Gs 117 / 24 lag schon eine ganze Weile zurück, fast drei Jahre.
»Entnommen am Montag, den dreißigsten September neunundzwanzig«, las Rath vor, »von PM Naujoks .« Er schaute den Pförtner an. »Ist das üblich, dass Ermittlungsakten so lange entliehen werden?«
Der Mann mit der Dienstmütze zuckte die Achseln.
»Verdammt!«, schimpfte Rath. »Das muss doch jemand nachhalten! So eine Schlamperei!«
Der Pförtner zuckte bei jedem Wort zusammen. Grigat schien sich diesmal nicht angesprochen zu fühlen, er wirkte mit seinen Gedanken woanders.
»Naujoks«, fragte er, »Robert Naujoks?«
»Sie kennen den Mann?«
»Kennen wäre der falsche Begriff.« Grigat hob seine Schultern. »Polizeimeister Naujoks war mein Vorgänger hier in der Kreispolizeibehörde. Ist vorzeitig in den Ruhestand gegangen.«
»Und der holt sich Ermittlungsakten nach Hause und bunkert sie?« Rath wunderte sich. »Also, meinen Ruhestand stelle ich mir anders vor.«
»Dieser Naujoks war schon ein seltsamer Kauz.« Grigat schüttelte den Kopf und zeigte auf das Datum im Entnahmebuch. »Der dreißigste neunte«, sagte er, »das muss sein letzter Arbeitstag gewesen sein. Einen Tag später habe ich hier angefangen.«
37
R obert Naujoks war gar nicht mal so alt. Jedenfalls nicht so alt, wie Rath vermutet hatte, höchstens Ende fünfzig. Es hatte eine Weile gedauert, ehe sie die Adresse herausgefunden hatten, der ehemalige Polizeimeister verlebte seinen Ruhestand nicht in Treuburg, nicht einmal im Kreis Oletzko, sondern in einer Gartensiedlung in der Kreisstadt Lyck, rund dreißig Kilometer südlich und ebenfalls an einem See gelegen. Ein See, das schien für masurische Städtchen so etwas wie eine notwendige Bedingung zu sein.
Der Lycker See hatte sogar eine kleine Insel, die über eine Brücke mit dem Festland verbunden war, und genau auf diese Insel blickte der Polizeimeister a. D. Naujoks, wenn er in seinem Arbeitszimmer am Fenster saß und Pfeife rauchte. Was er genau in diesem Moment tat. Hatte es eigentlich gar nicht so schlecht getroffen, der Mann, dachte Rath, als er mit Kowalski auf den angebotenen Sesseln Platz nahm.
»Sie interessieren sich also für den Luisenbrandskandal«, sagte Naujoks, der Hosenträger über seinem Hemd trug und Rath in seiner Brummigkeit ein wenig an Wilhelm Böhm erinnerte. Nur gut zehn Jahre älter und weißhaarig. Und ohne Walrossschnurrbart.
»Wir interessieren uns für die Vergangenheit von Herbert Lamkau, Friedrich Simoneit und Johann Wawerka«, sagte Rath. »Und ein Teil dieser Vergangenheit scheint irgendwo in Ihren Regalen zu stehen.«
»Die Ermittlungsakte, deretwegen Sie
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