Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Aber ich bin gerade unterwegs. Wollen Sie die Geschichte nun hören oder nicht?«
Rath wusste, dass er patziger geklungen hatte, als die dienstliche Etikette es erlaubte, doch war ihm das gerade herzlich egal. Böhm war weit weg und konnte ihn mal. Gerne auch kreuzweise!
Doch der Oberkommissar blieb friedlich. »Erzählen Sie«, sagte er nur.
Und Rath erzählte, so kurz wie möglich, was er alles über Lamkau und seine toten Schwarzbrenner- und womöglich auch Schlägerfreunde und ihre Vergangenheit und mögliche Mordmotive herausgefunden hatte. Und welche Theorie er für die wahrscheinlichste hielt.
»Wie heißt der Mann noch gleich?«, bellte Böhm. Hatte wohl vergessen, sich einen Notizblock parat zu legen, die Bulldogge.
»Radlewski, Artur Radlewski.«
»Wohnhaft wo?«
»Hat keinen festen Wohnsitz.«
»Ein Penner?«
»Eher ein Waldschrat. Ein Indianer. Hier nennen Sie ihn den Kaubuk.«
»Indianer? Wie meinen Sie das?«
»Radlewski soll tatsächlich wie ein Indianer leben hier in den Wäldern. Hat so ungefähr jedes Indianerbuch gelesen, das man in Deutschland besorgen kann.«
»Hm«, Böhm wirkte nachdenklich. »Ist es denkbar, dass er auch irgendwo nachgelesen hat, wie man Tubocurarin herstellt? Das ist doch ein Indianergift.«
»Durchaus möglich, Herr Oberkommissar.«
»Es sieht nämlich so aus, als stamme das Gift aus Eigenproduktion. Wir haben alle Stellen in Berlin abgeklappert, an denen man Tubocurarin erwerben kann, und nirgends fehlt etwas oder hat ein Unbefugter etwas erworben.«
»Dann sollten wir wissen, wie man so etwas herstellt und was man dazu braucht.«
»Was Sie nicht sagen, Herr Kommissar! Habe ich natürlich längst veranlasst. Kriminalsekretär Gräf spricht gerade mit einem Experten von der Universität über dieses Thema.«
»Jedenfalls sollten wir nach dem Mann fahnden …«
»Herr Kommissar«, polterte Böhm dazwischen, »schreiben Sie mir nicht ständig vor, was ich zu tun und zu lassen habe! Ich habe die Ermittlungsleitung inne, nicht Sie!«
»Heißt das, Sie werden keine Fahndung einleiten?«
»Natürlich werde ich das! Drehen Sie mir doch nicht das Wort im Mund um! Haben Sie ein Foto?«
»Nur eine Personenbeschreibung.« Rath gab durch, was der alte Adamek ihm in den Block diktiert hatte.
»Meinen Sie, es gibt noch mehr?«, fragte Böhm.
»Das ist alles, was ich habe.«
»Ich meine: Gibt es noch mehr Männer, die Radlewski für den Tod seiner Mutter verantwortlich machen könnte?«
»In der Ermittlungsakte sind keine weiteren Verdächtigen aufgeführt.«
»Und was ist mit diesem Luisenbrand? Könnte es sein, dass Radlewski es auch auf dessen Chef abgesehen hat?«
»Direktor Wengler?«
»Was weiß ich«, sagte Böhm. »Oder andere Männer, die vierundzwanzig dort in der Brennerei gearbeitet haben. Lassen Sie sich mal eine Liste geben. Und hören Sie sich in der Gerüchteküche um, wer damals noch mit dem Skandal in Zusammenhang gebracht wurde. Wenn wir wissen, wo diese Leute heute wohnen, dann wissen wir womöglich auch, wo der Mörder das nächste Mal zuschlagen wird. Und wenn wir das wissen, dann haben wir ihn.«
»Jawohl, Herr Oberkommissar.«
Rath legte auf, bevor er gezwungen war, weitere Groschen nachzuwerfen. So ein verdammter Mist! Nun stand er hier, in einer Telefonzelle, mehr als achthundert Kilometer entfernt von Berlin, und musste sich dennoch von Oberkommissar Böhm herumkommandieren lassen!
Er sortierte seine restlichen Groschen und ließ sich noch zweimal mit Berlin verbinden, einmal mit der Carmerstraße, einmal mit der Spenerstraße, doch niemand hob ab. Hatte er sich fast gedacht, um diese Uhrzeit, kurz vor zwölf, aber er musste sein Gewissen beruhigen, und er hatte ein verdammt schlechtes, weil ihm an den beiden Abenden, an denen er eigentlich hatte anrufen wollen, etwas dazwischengekommen war. Genauer gesagt: weil er sich besoffen hatte mit einem Dorflehrer, der gerade Sommerferien und nichts Besseres zu tun hatte. Diesen Umstand sollte Charly besser nicht erfahren, für sie musste er sich eine anständige Ausrede überlegen.
Na, er würde ihr schon eine spannende Geschichte erzählen. Dass er da draußen in den Wäldern unterwegs gewesen war, auf der Suche nach einem masurischen Indianer. Klang nicht gerade glaubwürdig, aber das tat die Wahrheit meistens auch nicht.
Wie er so an Charly dachte, an ihre Stirnfalte, wenn sie aufmerksam zuhörte, spürte er, wie sehr er sie vermisste. Und er steckte hier in diesem Kaff am Arsch der
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