Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
offensichtlich noch niemand gesprochen. Der Mann schnappte nach Luft.
»Einen kleinen Moment, der Herr, ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.«
Der Livrierte verschwand drinnen hinter irgendeiner Tür. Rath war sich sicher, dass er nirgends nachfragen oder gar telefonieren musste, um zu erfahren, wo Gustav Wengler sich aufhielt. Wahrscheinlich zählte er hinter der Tür, in der er verschwunden war, lediglich leise bis sechzig.
Tatsächlich dauerte es ungefähr eine Minute, und der Mann kehrte zurück.
»Wie man mir sagt, befindet sich Direktor Wengler auf dem Festgelände in der Stadt«, meinte der Diener und klang nasaler als hundert Franzosen. »Er ist jedoch sehr beschäftigt und …«
»Ich dachte, das Abstimmungsfest wird erst morgen gefeiert?«
»Vorbereitungen.« Der Mann sprach jetzt ausschließlich durch die Nase. »Direktor Wengler ist immerhin …«
»Ich weiß: Vorsitzender des Heimatdienstes.« Rath genoss es, den blasierten Kerl zu unterbrechen. »Wo ist denn dieses Festgelände?«
Der Diener warf ihm einen Blick zu, der besagte, dass man schon ein ganz besonders unwürdiges Insekt sein müsse, um nicht zu wissen, wo in Treuburg sich das Festgelände befinde.
»Der Hindenburgpark am Kreiskriegerdenkmal.«
»Und wo ist das?«
»An der Straße nach Goldap, direkt am See.«
Rath startete den Wagen und fuhr zurück in die Stadt. Die Leute hier gingen ihm mehr und mehr auf den Wecker, er sehnte sich zurück nach Berlin, noch mehr, seit er gestern Abend endlich mit Charly hatte telefonieren können. Dabei waren sie eher sachlich geblieben, hatten im Grunde nur über die Arbeit geredet. Sie kam voran, ihr Aschenbrödeldasein in der Zentralküche von Haus Vaterland zeitigte erste Erfolge. Da liefen tatsächlich irgendwelche Erpressungsgeschichten um die Herren Riedel und Unger, und die beiden Erpresser hatten Schwierigkeiten, augenscheinlich mit der Unterwelt. Vielleicht waren sie an irgendwen geraten, der Schutzgeld bezahlte und dafür jetzt eine Gegenleistung bekam. Das mochten Schutzgeldeintreiber gar nicht gern, wenn ihnen jemand in die Quere kam. Dass die Erpressungsgeschichte mit Lamkaus Tod zusammenhing, daran glaubte Rath immer weniger. Dennoch freute es ihn, dass Charly da einer Sache auf der Spur war, mit der sie Punkte sammeln würde bei Gennat und hoffentlich auch bei Friederike Wieking, ihrer eigentlichen Chefin.
Er selbst hatte wenigstens einen Teil von Böhms Aufgabenkatalog erledigt und gestern Nachmittag die Personalliste in der Brennerei abgeholt. Die war pünktlich fertig geworden, wie versprochen, und so sauber getippt und ohne jeden Orthographiefehler, dass Rath die Sekretärin am liebsten mit nach Berlin genommen hätte.
Der Hindenburgpark war nicht schwer zu finden, so viele Autos parkten schon in der Zufahrt und säumten die Straße nach Goldap. Rath hatte den Wanderer dazugestellt und schlenderte über das Gelände, das eine Mischung aus Sport- und Grünanlagen war. An sämtlichen Fahnenstangen, die hier zur Verfügung standen, wehten Flaggen, schwarz-weiße und schwarz-weiß-rote, nirgends jedoch das Schwarz-Rot-Gold der Republik. Überall herrschte hektische Betriebsamkeit, neben dem Sportplatz wurde ein Festzelt aufgebaut, an dessen Seitenwänden für Luisenbrand und Treuburger Bärenfang geworben wurde, gleich daneben stand ein Karussell. Wurst-, Los- und Lebkuchenherzenbuden, sogar eine Schießbude – ein richtiger kleiner Jahrmarkt reihte sich den Hauptweg entlang. Und die allgegenwärtige Werbung für Erzeugnisse der Firma Mathée zeigte, wer die ganze Chose bezahlte und zugleich daran verdiente.
Das Kriegerdenkmal am Ende des Parks sah aus wie eine Kirche, die nicht ganz fertig geworden war, eine Apsis ohne Altar und ohne Dach, ein Bruchsteinhalbrund mit Spitzbogenfenstern, die einen schönen Blick auf den See eröffneten. Auch das Denkmal war herausgeputzt, mit Blumen und Girlanden dekoriert, und oben auf der Plattform, zu der eine bruchsteinerne Freitreppe hinaufführte, stand ein ähnlich geschmücktes Rednerpult, über dem die Feuerwehr gerade ein Spruchband spannte. Allzeit in Treue fest zu Preußen und zum Reich , war dort zu lesen, und Rath konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Motorlöschzug des Kreises Oletzko (so stand es auf der Fahrertür) seinen Leiterwagen weniger zum Feuerlöschen angeschafft hatte als zum Schmücken von Volksfesten.
Auf der Bühne, die ein paar Männer am Fuße des Denkmals zusammenzimmerten, würde morgen
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