Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
höchstens Bruchstücke entziffern, zwei drei Worte pro Satz, und dann war Schluss.
Rath hatte Maria Cofalka noch sprechen wollen, sie aber auf dem Festgelände nicht mehr angetroffen und auch nicht beim abendlichen Ausklang mit feierlichem Fackelzug und einem letzten Auftritt des Musikvereins, zu dem als Höhepunkt das große Feuer auf dem Marktplatz entzündet worden war.
Wenn die Zeilen, die Rath hatte lesen können, die Wahrheit sagten, dann hatte die Bibliothekarin recht. Dann gründete Gustav Wenglers Geschichte vom Mord des bösen Polen an einem aufrechten deutschen Mädel auf einer Lüge.
Vor dem Kronprinzen war Rath an Karl Rammoser geraten, der den Abend im Kreise seiner Lehrerkollegen feuchtfröhlich ausklingen ließ. »Maria wird ihren Rausch ausschlafen«, hatte er gesagt. »Die verträgt nicht viel.« Im Gegensatz zu der Lehrerrunde, mit der Rath noch bis tief in die Nacht beisammensaß und trank. Die Lehrer konnten sich das leisten, sie mussten allesamt morgen nicht vor ihren Klassen stehen, es war immer noch mitten in den großen Ferien. Alle übrigen Treuburger dagegen schienen schon in ihren Betten zu liegen, als Rath sich schließlich, deutlich nach Mitternacht, endlich auf den Heimweg machte.
Als er den Salzburger Hof erreichte, überraschte er die Tochter des Hauses mit ihrem SA – Mann. Die beiden standen in einer dunklen Hofeinfahrt neben dem Hotel, und Fabeck redete auf das Mädchen ein. Hella entdeckte den heimkehrenden Hotelgast und lächelte ihn an. Rath erwiderte das Lächeln, da drehte Fabeck sich um. Als er den Kommissar erblickte, zog er Hella zu sich und gab ihr einen langen Kuss, den das Mädchen nicht eben hingebungsvoll erwiderte – während ihre Zunge in Fabecks Mund beschäftigt war, schaute sie Rath die ganze Zeit ungeniert in die Augen. Von wegen Landpomeranze! So ein Früchtchen! Rath musste grinsen.
Als er im Bad stand und sich die Zähne putzte, musste er wieder an Artur Radlewski denken, den Mann, der sich jetzt Tokala nannte. Der seinen Vater skalpiert hatte und in den Wald geflohen war. Der einen Mord beobachtet hatte und sich schuldig fühlte, ihn nicht verhindert zu haben. Der ganz offensichtlich nicht der halb debile Waldschrat war, für den ihn alle hielten. Was war das für ein Mensch? Einen Moment war Rath versucht, die Briefe wieder aus der Schublade zu holen, doch ohne Lupe würde er ohnehin kaum etwas lesen können. Außerdem war er viel zu müde und zu betrunken. Er zog sich aus, legte sich ins Bett und war eingeschlafen, kaum dass er in der Waagerechten lag.
Der masurische Indianer spukte sogar durch seine Träume, als edler Wilder, der in etwa so aussah, wie Rath sich als Kind Winnetou vorgestellt hatte. Und dieser aufrechte Apatsche streifte durch die masurischen Wälder, bis er an einen See gelangte, in dessen Uferwasser ein totes Mädchen lag. Und plötzlich stand Rath selbst in diesem See und beugte sich über die leblose Schönheit. Und erkannte inmitten der schwarzen, im Wasser schwimmenden Haare das Gesicht des Mädchens und erschrak zu Tode. Charly, das war Charly!
Er schreckte aus dem Schlaf, riss die Augen auf und starrte in die Dunkelheit, sein Herz klopfte wie wild, sein Atem ging heftig, als sei er selbst kurz vor dem Ertrinken gewesen. Seine Hand tastete das Bett ab und suchte nach Charly, seine Gedanken brauchten einen Moment, ehe sie sich sortiert hatten und er überhaupt wusste, wo er sich befand.
Er hatte in den letzten Tagen eindeutig zu viele gruselige Geschichten gehört, so viel stand fest.
Hatte er da etwas gehört? Es war stockfinster im Zimmer bis auf einen schmalen Streifen, wo das Mondlicht sich einen Weg durch den Spalt zwischen den schweren Vorhängen bis zur Wand neben seinem Bett gebahnt hatte.
Rath tastete nach der Walther, die er mitsamt Holster auf den Nachttisch gelegt hatte. Er konnte immer noch nichts sehen in der absoluten Finsternis vor ihm und er war auch nicht sicher, ob er gerade etwas gehört hatte, aber er spürte es: Da war jemand in seinem Zimmer.
Er hatte die Pistole erwischt und fummelte sie aus dem Holster. Es klickte, als er die Waffe entsicherte.
»Ist da jemand?«, fragte er.
Keine Antwort.
»Wer ist da? Geben Sie sich zu erkennen. Ich bin bewaffnet!«
Ein weißer Schatten huschte an sein Bett, und Rath fuhr herum, die Pistole im Anschlag.
»Pssst«, hörte er es zischen, überraschend laut.
Und dann spürte er einen schmalen, warmen Finger, der sich auf seine Lippen legte. Und erkannte in
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