Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
noch in der Hand und ein wenig außer Atem.
»Gustav Wengler«, sagte er, ohne sich zu setzen. »Er ist weg. Abgereist.«
»Wohin?«, fragte Gennat.
»Ist im Bahnhof Friedrichstraße in den Zug nach Danzig gestiegen. Ich konnte ihm ja schlecht hinterher.«
»Kein Problem«, sagte Gennat. »Werde den Kollegen Muhl in Danzig informieren. Die können den Mann am Bahnhof abfangen und die Beschattung übernehmen.«
»Aber«, sagte Lange, »das ist die Freie Stadt Danzig, da hat die deutsche Polizei nichts mehr zu melden.«
»Das mag sein«, sagte Gennat, »und vielleicht fährt Wengler ja auch aus genau diesem Grunde dorthin. Doch John Muhl ist ein alter Preuße und ein alter Freund, also wird er uns diesen Gefallen tun.«
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D er Geruch von Gefängnissen war überall gleich, ob im Klingelpütz, in Plötzensee oder Tegel: Urin und Schweiß, Staub und Stahl und Angst, eine unverwechselbare Mischung. Kaum war er vom Hof in die Schleuse getreten, wusste er, dass er an einem Ort war, an dem Menschen eingesperrt wurden, auch wenn man dem Zuchthaus Wartenburg noch ansehen konnte, dass es ursprünglich als Kloster erbaut worden war. Rath kannte jedenfalls sonst keine Haftanstalt, in der ein Kirchturm das dominierende Gebäude gewesen wäre. Das Zuchthaus lag beinahe idyllisch auf einer Halbinsel, vom Wartenburger Ortskern mit seiner Backsteinkirche nur durch den Mühlenteich getrennt. Viele Fenster führten zum Wasser hinaus, auch vergitterte, doch Rath bezweifelte, dass die Häftlinge die Aussicht zu schätzen wussten.
Er versuchte, sich vorzustellen, wie Polakowski hier in seiner Zelle gesessen hatte, zu Unrecht verurteilt, die Geliebte ermordet, von dem Mann, der ihn dann ins Zuchthaus gebracht hatte, mithilfe seiner Kumpane, die alle in seinem Sinne aussagten.
Der Nachtzug durch den Korridor ging erst in viereinhalb Stunden ab Allenstein, und Rath hatte die Gelegenheit genutzt, das Zuchthaus zu besuchen, in dem Jakub Polakowski bis zu seiner tödlichen Flucht vor zwei Jahren eine Strafe abgesessen hatte für eine Tat, die er überhaupt nicht begangen hatte. Der Strafanstaltsdirektor konnte den Kriminalkommissar aus Berlin empfangen, und Rath hatte sich wenige Minuten nach seiner Ankunft am Allensteiner Bahnhof in ein Taxi gesetzt.
Ein Wachmann betrat das Wartezimmer, in dem sonst wohl die Angehörigen darauf warteten, einen Häftling sprechen zu dürfen.
»Der Herr Direktor kann Sie jetzt empfangen.«
Der Herr Direktor. Rath musste an Gustav Wengler denken. In dessen Gutshaus wurde man mit ähnlichen Worten vorgelassen.
Das Büro des Strafanstaltsdirektors war eher klein, bot aber einen schönen Blick übers Wasser auf die Stadt. Rath bekam immer mehr den Eindruck, dass die ostpreußischen Beamten vor allem Wert auf eine gute Aussicht legten.
Strafanstaltsdirektor Karl Henning war ein dünner Mann mit noch dünnerem Haar, der ihn freundlich begrüßte und ihm einen wackligen Besucherstuhl anbot.
»Schön gelegen, Ihr Zuchthaus«, sagte Rath, nachdem er sich gesetzt hatte, und versuchte, die Balance zu halten. Der Stuhl wirkte, als wolle er jeden Augenblick zusammenbrechen.
»War früher ein Kloster«, erklärte Henning.
»Darf man hier rauchen?«
»Bitte.«
Der Direktor zeigte auf einen Aschenbecher auf dem Schreibtisch, und Rath zog sein Etui aus der Tasche.
»Sie interessieren sich für einen bestimmten Häftling?«, fragte Henning, während sich Rath die Zigarette ansteckte.
»So ist es, Herr Doktor. Jakub Polakowski. Lebenslänglich Zuchthaus wegen Mordes. Eingeliefert am siebten November neunzehnhundertzwanzig.«
»Aber der Mann ist tot, das wissen Sie? Bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen.«
»Ist mir bekannt. Ich würde gern wissen, ob er Verwandte hat oder enge Freunde. Wer ihn so alles besucht hat, in der Zeit, in der er hier bei Ihnen inhaftiert war.«
»Das kann ich Ihnen genau sagen, darüber führen wir Buch.« Henning griff zum Telefon auf seinem Schreibtisch. »Grundmann? Bringen Sie mir doch bitte die Akte Polakowski, Jakub, Sträfling viersechsundsechzigschrägstrichzwanzig.«
Rath hatte die Zigarette noch nicht zu Ende geraucht, da erschien ein junger, übereifriger Mann und legte eine schmale Akte auf den Direktorenschreibtisch. Henning musste nicht lange suchen.
»Hier haben wir es …« Der Direktor blätterte noch einmal vor, dann wieder zurück, als vermisse er die ein oder andere Seite, dann sprach er weiter. »Wenn ich das richtig sehe, hat Jakub Polakowski in den
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