Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
zu fassen suchte.
Und dann wusste er mit einem Mal, was es war: Er kannte diesen Mann, er hatte ihn schon einmal gesehen. Auch wenn er sich äußerlich verändert haben mochte, die Augen ließen keinen Zweifel: Es war derselbe Mann, und Rath war ihm selbst begegnet. Vor Kurzem erst, vor wenigen Wochen. Aber nicht in Treuburg.
In Berlin.
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E twas mulmig war ihr schon zumute. Das hier war ihr erster Einsatz mit Schusswaffe, und sie hatte noch nicht besonders viel Übung damit. Aber Gennat hatte darauf bestanden, dass auch sie eine Waffe einsteckte, bevor sie mit Böhm zusammen aufgebrochen war.
Der Buddha hielt die Stellung in der Burg. Hartmut Janke wohnte laut den Angaben, die er seinerzeit im Haus Vaterland gemacht hatte, im vierten Stock, und das war für den schwergewichtigen Kriminalrat eindeutig zu viel. Schon das tägliche Treppensteigen in der Burg bereitete Gennat Probleme, obwohl die Inspektion A im ersten Stock untergebracht war. Vielleicht, diese Vermutung hatte nicht nur Charly, übernachtete er deshalb des Öfteren in seinem Büro, wo er sich vor Jahren schon eigens eine Schlafkammer hatte einrichten lassen, für Tage, an denen es einmal später wurde. Und solche Tage kamen bei Gennat öfter vor. Sie kamen bei jedem Kriminalbeamten öfter vor, der seine Arbeit ernst nahm.
Und heute war wieder so ein Tag. Es war schon acht Uhr abends durch, als die Uniformierten sich im Treppenhaus auf ihre Posten begeben hatten. Alle Fluchtwege waren versperrt, unten im Hof und auf der Straße waren weitere Beamte postiert.
Der Einsatzleiter nickte Böhm zu, und der klopfte an die hölzerne Wohnungstür.
Keine Reaktion.
Böhm klopfte noch einmal.
»Herr Janke? Sind Sie zu Hause? Entschuldigen Sie die späte Störung. Ich müsste Sie dringend sprechen. Kriminalpolizei. Wir haben noch ein paar Fragen zum Mordfall im Haus Vaterland vor drei Wochen. Dauert auch nicht lange.«
Immer noch regte sich nichts hinter der Tür.
Charly überlegte, ob sie Böhm ihre Kenntnisse im Schlösserknacken anbieten sollte, die Gereon ihr beigebracht hatte, doch da hatte der Oberkommissar schon ausgeholt und die Tür mit einem wuchtigen Tritt aus den Angeln und aus dem Schloss getreten. Holz splitterte, es krachte laut.
Und dann stürmten die Uniformierten die Wohnung.
Charly folgte in gebührendem Abstand, ihre Dienstwaffe nur pro forma gezogen und entsichert. Sie hielt sie schussbereit, den Lauf in die Höhe, aber nur, weil es so besser aussah und sie sich vor den Kollegen nicht blamieren wollte.
Und es waren eine Menge Kollegen hier.
Gleich nach Gereons Anruf hatte sie Böhm und Gennat informiert. Das Erste, was der Buddha hatte wissen wollen: »Ich hoffe, Sie können mir diesmal sagen, wo sich Kommissar Rath befindet.«
»Wo er sich jetzt gerade befindet, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass er aus einem Zuchthaus angerufen hat.«
»Wie bitte?«
»Aus Wartenburg. Ein Zuchthaus in Ostpreußen. In den Akten dort hat er Janke beziehungsweise Polakowski wiedererkannt.«
Gennat hatte sich mit dieser Antwort zufriedengegeben. Und entschieden, sofort zuzugreifen und zur Sicherheit eine Einsatzhundertschaft mitzunehmen, für den Fall, dass der Kerl sich wehren sollte oder zu fliehen versuchte.
Im Hinterhof standen die Uniformierten und an allen Ein- und Ausgängen, auch auf der Müllerstraße. Selbst hier im Wedding sorgte solch ein Polizeiaufgebot für Aufsehen.
Sie hatten die Wohnung in weniger als dreißig Sekunden durchkämmt.
Es war tatsächlich niemand zu Hause. Alle Fenster von innen verschlossen, er hatte also auch nicht versucht, über die Feuerleiter zu entkommen. Böhms erster Weg führte ihn ins Schlafzimmer und zum Kleiderschrank. Dort klapperten nur leere Bügel, bis auf einen. Und an dem hing eine Uniform der Berliner Wach- und Schließgesellschaft.
Ansonsten waren alle Schränke leer geräumt, selbst das Bett abgezogen. Kein Bild hing mehr an der Wand, allein kleine Löcher in der Tapete verrieten, dass über dem Schreibtisch jede Menge Fotos oder sonstige Dinge angepinnt gewesen sein mussten. Charly bückte sich und entdeckte einen kleinen Fetzen Zeitungspapier, kaum vergilbt, ein schwarzer Strich war noch zu sehen, wie von einem Trauerrand, das war das einzige bisschen Druckerschwärze, sonst nichts.
Und wie es aussah, war das die einzige Spur, die der Mann zurückgelassen hatte. Die Bereitschaftspolizisten überließen den Spurensicherern das Feld, aber auch die konnten nichts finden, keine roten
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