Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Taschentücher, keine Briefumschläge, kein Tubocurarin, nicht einmal Fingerabdrücke.
»Als hätte der vorher alles mit einem Tuch abgewischt, bevor er verschwunden ist.«
»Und die Uniform?«, fragte Böhm.
»Fehlanzeige, wenn Sie Fingerabdrücke meinen. Sieht aus, als wäre sie in der Reinigung gewesen.«
»Schauen Sie mal hier!«
Ein anderer ED – Mann hatte zwischen Diele und guter Stube, genau unter dem Türrahmen, ein Brett aus dem hölzernen Dielenboden gerissen.
»Hier drunter ist es hohl!«
»Und?«
Charly und Böhm traten heran, um selbst einen Blick in das Versteck zu werfen.
Der Spurensicherer zuckte die Achseln, selbst am meisten enttäuscht.
»Leer.«
Und das war es tatsächlich. Doch Charly war sich sicher, dass hier bis vor Kurzem noch all das aufgehoben worden war, was die Polizei bei einem zufälligen Besuch bei Wachmann Janke niemals hätte finden dürfen.
»Schauen Sie mal, ob Sie trotzdem noch irgendetwas in diesem Hohlraum da finden …«
»Wie meinen Sie das? Der ist leer.«
»Ich meine Kleinigkeiten. Etwas, für das Sie womöglich eine Lupe brauchen. Und besseres Licht. Glasscherben vielleicht oder angetrocknete Reste einer Flüssigkeit. Irgendwas in dieser Richtung. Und dann prüfen Sie, ob das Glas vielleicht zu einer Injektionsspritze passt. Oder ob es sich bei der Flüssigkeit um Curarin handeln könnte.«
Der Spurensicherer nickte.
In der Ecke, wo drei Räume der Wohnung aneinanderstießen, stand ein kleiner Kanonenofen. Charly nahm ein Taschentuch und öffnete die Klappe.
»Im Ofen ist noch Asche«, rief sie, und einer von Kronbergs Leuten eilte herbei, »die ist sogar noch warm.«
Der Spurensicherer nahm den Schürhaken und stöberte vorsichtig durch die Asche. Überwiegend Papier war hier verbrannt worden. Aber dann fischte der Mann etwas aus der schwarzgrauen warmen Masse, die sofort zerfiel, wenn man sie berührte, etwas, das den Fraß der Flammen überlebt hatte. Eine kleine Ecke Papier nur, doch man konnte noch erkennen, dass es eine Todesanzeige war. Und sogar noch ein paar Buchstaben lesen:
dein Sieg?
atschlusse gefallen,
plötzlich mitten
reißen.
Jetzt war Charly sicher. Sie hatten sein Versteck gefunden. Er war es wirklich.
Wachmann Hartmut Janke, der ihnen im Haus Vaterland so bereitwillig Auskunft gegeben hatte, hieß eigentlich Jakub Polakowski. Und hatte vier Männer ermordet.
88
E r sah sie schon, als der Zug in den Bahnhof einfuhr. Da standen sie, ein Hund und eine Frau. Charly schaute leicht säuerlich. Oder bildete er sich das nur ein? Einen Blumenstrauß hatte sie jedenfalls nicht besorgt, aber das hatte er auch nicht erwartet.
Vertauschte Rollen, dachte er. Vor drei Wochen hatte er da auf dem Bahnsteig gestanden mit Kirie und auf sie gewartet. Vielleicht war es sogar derselbe Bahnsteig. Nur dass ihr Zug damals aus dem Westen gekommen war und seiner jetzt aus dem Osten.
Er winkte, doch sie hatten ihn noch nicht entdeckt. Natürlich war sie sauer, und sie hatte alles Recht der Welt dazu. Dennoch hoffte er, sie möge sich auch ein wenig freuen auf ihn. So wie er sich freute, sie da stehen zu sehen, sie und den Hund.
Er stellte sich mit seinem Koffer an die Tür und war einer der Ersten, die aus dem Zug stiegen.
Als Charly ihn entdeckte, zeigte sich doch ein Lächeln auf ihrem Gesicht. Na bitte!
Er ging ihr entgegen mit seinem Koffer, vorbei an den anderen Reisenden, die sich auf dem Bahnsteig drängten und die ihn überhaupt nicht interessierten, er schob sich an allen vorbei, ohne Rücksicht auf Verluste, bis er sie erreicht hatte. Kirie wedelte wie wild mit dem Schwanz und tanzte aufgeregt hin und her; Charly stand einfach nur da und schaute ihn streng an. Und lächelte dabei.
Er nahm sie in den Arm und ließ sie eine Weile nicht mehr los. Versenkte seine Nase in ihrem Haar und atmete ihren Duft wie ein Süchtiger.
»Tut mir leid«, flüsterte er in ihr Ohr.
»Was tut dir leid?«
»Na, alles. Dass ich so lange weg war. Dass du nicht wusstest, wo ich bin.« Er schaute sie an. »Ich war sozusagen verschollen.«
»Da sagst du was.«
»Im Ernst. Hatte mich im Wald verirrt, wäre beinah im Moor krepiert, wenn nicht …« Er brach ab. »Ich erzähl dir das lieber zu Hause bei einer Tasse Kaffee und nicht hier am Bahnhof.«
»Kaffee ist schon fertig.«
»Wunderbar.«
Er winkte einem Gepäckträger.
»Habt ihr Polakowski?«, fragte er, als sie die Treppe hinunter- und zum Auto gingen.
Sie schüttelte den Kopf.
»Weder Polakowski
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