Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
mehr als zehn Jahren, die er bei uns war, nur ein einziges Mal Besuch erhalten.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe in Erinnerung, dass der Mann sehr einsam war, aber dass es so schlimm war, das war mir nicht bewusst.«
»Wer hat ihn denn besucht«, fragte Rath, »und wann? Es ist sehr wichtig. Der Mann könnte möglicherweise ein Mörder sein. Jemand, der für den verstorbenen Polakowski Rache nimmt.«
»Es ist kein Mann«, sagte Henning, »es ist eine Frau.« Er schob die dünne Akte zu Rath über den Schreibtisch und zeigte auf den Namen, der dort eingetragen war, mitsamt der vollständigen Adresse.
Cofalka, Maria, Bibliothekarin
Treuburg, Reg. Bez. Gumbinnen, Seestraße 3
Es war nicht der Name, den Rath erwartet hatte, beileibe nicht, er hatte mit einem anderen Polakowski gerechnet, irgendeinem entfernten Verwandten oder so, aber dennoch oder gerade deswegen spürte Rath augenblicklich dieses Kribbeln unter der Kopfhaut, das ihn immer dann erfasste, wenn sich etwas abzeichnete, das er noch nicht sah, das aber womöglich entscheidend sein konnte.
»Ich sehe gerade: Das war wenige Tage vor seinem Ausbruchsversuch«, sagte Direktor Henning und schüttelte den Kopf. »Tragisch. Gerade, wo jemand ihn besuchen kommt, bricht er aus und verwirkt sein Leben.«
»Vielleicht ist er ja ausgebrochen, weil er wieder einen Sinn im Leben gesehen hat.«
»Weil er sich in seine Besucherin verliebt hat?« Henning zuckte die Achseln. »Vielleicht haben Sie recht, so etwas kommt vor.«
»Wie ist das eigentlich passiert? Dieser Todesfall bei seinem Ausbruchsversuch? Hat man ihn erschossen?«
»Nein.« Doktor Henning musste nicht einmal in die Akte schauen, um die Geschichte erzählen zu können. »Polakowski war zusammen mit anderen Häftlingen bei Straßenbauarbeiten eingesetzt. Da ist er in einem unbewachten Augenblick geflohen. Zusammen mit dem Häftling, mit dem er aneinandergekettet war. Ein gewisser Sobotka, ein gerissener Bankräuber.«
»Aneinandergekettet? Ist da nicht jeder Fluchtversuch völlig aussichtslos?«
»Das haben wir auch gedacht.« Henning zuckte die Achseln. »Dass nur ein Wahnsinniger so etwas versucht. Beziehungsweise zwei Wahnsinnige, denn allein geht das ja nicht. Aber Sobotka ist die Flucht gelungen. Wir suchen ihn bis heute.« Der Direktor schaute ernst. Er schien das Thema nicht zu mögen. »Und Polakowski, der arme Kerl, den Sobotka wahrscheinlich überhaupt erst zur Flucht angestiftet hat, musste dran glauben.«
»Erzählen Sie!«
Und der Direktor erzählte, wie man Polakowskis Leiche auf der Bahnstrecke zwischen Allenstein und Insterburg gefunden habe, vom Zug erfasst. Und von Sobotka keine Spur.
Rath nickte. »Könnte ich die Akte einmal einsehen?«, fragte er den Direktor.
Kurz darauf saß Rath mit der Häftlingsakte Polakowski in einem leeren Büro, dessen Fenster auf den Gefängnishof zeigten und auf einen Wachturm, auf dem er zwei Männer mit schussbereiten Karabinern erkennen konnte. Direktor Henning hatte ihm noch einen Kaffee bringen lassen. Rath zündete sich eine Overstolz an und blätterte durch die Akte Polakowski. Ein ernster Mann guckte aus dem Foto. Ein Mann, der wirklich keinen Funken Hoffnung mehr in den Augen hatte.
Rath schaute sich das Datum in der Besucherliste an. Maria Cofalka, Bibliothekarin aus Treuburg, wohnhaft dortselbst in der Seestraße 3, hatte den Häftling Jakub Polakowski am 27. Juli 1930, 17 Uhr, besucht, an einem Sonntag. Genau eine Woche nach der Abstimmungsfeier, auf der sie Gustav Wengler des Mordes bezichtigt hatte.
Maria Cofalka hatte Polakowski in ihr Geheimnis eingeweiht! Sträfling 466 / 20 hatte nach dem Besuch Maria Cofalkas tatsächlich wieder einen Sinn in seinem Leben gesehen.
Polakowski wollte mit einem Mal, nach Jahren der Lethargie, in denen er sich schon aufgegeben hatte, raus aus dem Gefäng-nis.
Aber nicht, weil er sich in die Bibliothekarin verliebt hatte. Nein, nicht die Liebe, sondern der Hass hatte ihn zu dem Ausbruch getrieben.
Eineinhalb Wochen nach Cofalkas Besuch. An einem Dienstag, nachmittags um halb zwei. Und um kurz nach fünf hat man seine Leiche gefunden.
Mit dem Todesdatum 5. August 1930 endete die Gefangenenakte, mit dem eingestempelten Vermerk Verstorben.
Rath blätterte zurück zu der ersten Seite, zurück zu dem Foto. Vorhin schon hatte der Anblick des Mannes, der so ein tragisches Schicksal erleiden musste, bei ihm irgendetwas in Gang gesetzt, ein unbestimmtes Gefühl, das er nun wieder
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