Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Über zwei Stunden hast du in dieser elenden Zelle gesessen, bevor du hinaus an den See fahren konntest. Und sie gefunden hast.
Du hast keine Erinnerung mehr an das, was dann passiert ist. Es war, als habe deine Seele diesen Körper, der da immer noch saß und atmete und stumpfsinnig auf den See glotzte, bereits verlassen und habe sich schon auf den Weg gemacht, auf die Suche nach ihr, deren Körper da tot und bleich im Wasser lag.
Erst im Gerichtssaal hast du erfahren, dass du fast eine Stunde am Wasser gehockt haben musst, bei ihrer Leiche, bis irgendwann der Polizist aus dem Wald gekommen ist und dich mit seinem Gewehrkolben niedergeschlagen hat. Derselbe Mann, der dich daran gehindert hat, ihr Leben zu retten.
Nur eine Frage ist in diesem Gerichtssaal niemals geklärt worden: die Frage, wer Anna wirklich umgebracht hat.
Erst ein Gefängnisbesuch zehn Jahre später hat diese Frage beantwortet.
Du hast sie zunächst nicht erkannt, wie sie da saß auf dem Besucherstuhl, schüchtern, ihre Handtasche auf dem Schoß, den Blick gesenkt. Wartenburg war keine Umgebung für eine Frau wie sie. Erst als sie ihren Kopf hob und dich anschaute, hast du sie erkannt.
Maria. Die Bibliothekarin.
Du hättest fast geweint, so sehr hatte es dich getroffen, so wenig hattest du damit gerechnet. Da saß jemand aus deinem früheren Leben.
Und dann hat sie ihre Stimme gesenkt und dir eine unglaubliche Geschichte erzählt. Dass es einen Zeugen gegeben hat für Annas Tod.
Dass sie weiß, wer Annas Mörder ist.
Als die Besuchsstunde vorüber war, hattest du deine Ansichten über Sinn und Sinnlosigkeit einer Flucht aus dem Zuchthaus grundlegend geändert.
Zu Sobotkas großer Freude. Denn du gehörtest zu seinem Plan. Weil sie euch immer zusammengekettet haben, draußen bei den Straßenbauarbeiten, zu denen die Wartenburger Häftlinge im Sommer 1930 eingesetzt wurden.
Mit stählernen Fußfesseln aneinandergekettet, die Hände frei, damit man arbeiten konnte. Aufseher mit Karabinern standen gelangweilt in der Gegend herum.
Das waren die Sicherheitsvorkehrungen, und die Aufseher verließen sich mehr auf die Fesseln als auf ihre Gewehre. Die Ketten waren nicht zu durchtrennen, dazu brauchte es schon einen Schmied. Einen Schmied, der sich mit Kriminellen einließ, mit entlaufenen Zuchthäuslern.
Sobotka wusste, welcher Wärter am nachlässigsten war, er hatte das Ganze schon seit Monaten geplant und alle Abläufe beobachtet, den entscheidenden Moment, wenn die Mittagshitze am größten war und der Mann mit dem Gewehr in eurem Abschnitt immer im Schatten saß und döste und fast einschlief.
Es klappte besser als gedacht.
Ihr schafftet es bis in den Wald, ehe der Aufseher Alarm schlug. Ihr konntet die Ketten jetzt loslassen, und sie klirrten bei jedem Schritt, doch hier im Wald war das egal, ihr musstet nur einen See erreichen, ehe die Wärter mit den Hunden kamen. Doch es würde eine Weile dauern, bis sie die Hundestaffel vom Zuchthaus geholt hätten.
Es gab viele Seen in den Wäldern bei Wartenburg, und ihr nahmt den nächstbesten, mitten im Wald gelegen, ohne einen einzigen Steg, kein Boot, nichts. Ihr schafftet es, ihn zu durchschwimmen, gerade so eben, ihr hörtet schon das Gekläff der Meute, als ihr am anderen Ufer aus dem Wasser stiegt. Sobotka grinste, weil er wusste, dass die Hunde am Seeufer eure Fährte verlieren würden.
Und auch für das Problem der Fußfesseln hatte er eine Lösung. Die Eisenbahnlinie nach Insterburg, die hier, nicht weit entfernt, mitten durch den Wald führte.
»Nicht gefährlich«, hatte er mit seinem typischen Grinsen erklärt, als er dir zum ersten Mal davon erzählt hat und dein entsetztes Gesicht gesehen haben muss. »Nicht gefährlich.«
Damals hast du genickt, weil du seine spinnerten Ideen ohnehin nicht ernst genommen hast. Weil sie für dich nur Theorien waren, die niemals in die Praxis umgesetzt werden sollten.
Aber in diesem Moment war es so weit.
Der Bahndamm führte mitten durch den Kiefernwald und war das einzige Zeichen der Zivilisation weit und breit.
Es war ruhig, nur ein paar Vögel waren zu hören und das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln. Keine Hunde. Sie hatten eure Spur verloren.
Sobotka legte sich aufs Gleisbett und zeigte dir, wie du dich hinlegen solltest. Außen.
»Da ist es nicht so gefährlich«, sagte er.
»Ich denke, es ist überhaupt nicht gefährlich.«
»Nicht für den, der außen liegt.«
»Aber für dich.«
»Solange nicht irgendetwas vom Zug
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