Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
»Der ist in den Bahnhof gegangen am Freitagmorgen, jede Wette. Mit einem kleinen Koffer.«
Aber wohin Polakowski gefahren war, konnte der Mann ihm natürlich auch nicht sagen, konnte sich nicht einmal an die ungefähre Uhrzeit erinnern. Rath machte sich Notizen und gleichzeitig wenig Hoffnung, dass sie dem Mann so auf die Spur kommen könnten. Vom Schlesischen Bahnhof, der auch einen S-Bahnsteig hatte, konnte man so ungefähr überallhin fahren. Schon um zwanzig nach elf hatte Rath seine Liste abgearbeitet, doch er fuhr nicht zurück zum Alex, obwohl das mit der S-Bahn nur zwei Stationen waren.
Er hatte Charly angelogen, und das an dem Tag, als sie ihre Verlobung offiziell gemacht hatten in der Burg. Gennat hatte es heute Morgen in der Besprechung verkündet, und Harald Dettmann, dem Rath zum ersten Mal seit seiner Rückkehr aus Masuren wieder begegnet war, hatte den frisch Verlobten mit einem bösen Blick bedacht, während die anderen Kollegen zu Gennats Gratulation applaudierten. Jetzt war die Sache durch, jetzt wussten alle Bescheid, und sie hätten in der Kantine darauf anstoßen können, doch er lief stattdessen hier durch Friedrichshain und steuerte das Spreeufer an.
Langsam ging er die Mühlenstraße hinunter, eine Zigarette auf dem Zahn und die Hände in den Manteltaschen, Richtung Oberbaumbrücke, Richtung Osthafen. Wo vor einem Jahr der rote Hugo spurlos verschwunden war, der Chef des Ringvereins Berolina .
Die schwarze Adler-Limousine, die an Rath vorbeizog und dann am Straßenrand hielt, passte überhaupt nicht in diese von Industrie, Kleinkriminalität und Armut geprägte Gegend, doch hätte niemand gewagt, auch nur einen Kratzer in ihrem Lack zurückzulassen.
Jeder hier wusste, wem dieser Wagen gehörte. Und auch Rath wusste es.
Die Fahrertür öffnete sich, und ein gut gekleideter Chinese stieg aus. Der Mann trug einen langen schwarzen Zopf unter seinem Hut, grüßte Rath mit einem kurzen Nicken und öffnete den Wagenfond.
»Danke, Liang«, sagte Rath und setzte sich auf die Rückbank, neben einen Mann mit kräftiger Statur, der gerade in irgendwelchen Papieren las, die er aber gleich beiseitelegte.
»Herr Kommissar. Lange nicht gesehen.«
»War eine Weile verreist.«
»Darf ich Sie zum Essen einladen? Ich kenne ein gutes chinesisches Lokal ganz in der Nähe.«
»Danke, aber ich bin schon verabredet.« Rath hatte seine letzte Zigarette ausgetreten, bevor er in den Wagen gestiegen war, jetzt fummelte er schon die nächste Overstolz aus dem Etui.
»Dann werden wir eben einfach so ein bisschen durch die Gegend gondeln«, sagte Johann Marlow und gab dem Chinesen einen Wink. Die schwere Limousine rollte an. Liang bog in die Warschauer Straße ein.
»Haben Sie vielen Dank, dass wir uns treffen konnten«, sagte Rath, obwohl es ihm widerstrebte, sich bei einem Unterweltkönig wie Marlow zu bedanken. Aber er war auf dessen Hilfe angewiesen, und so biss er in den sauren Apfel. Immer mal wieder. Jedes Mal schmeckte der Apfel saurer. Und jedes Mal hatte er sich ein bisschen mehr an den sauren Geschmack gewöhnt.
Wenigstens hatte Marlow ihn bislang immer ehrlich behandelt, niemals versucht, ihn hereinzulegen, was man längst nicht von allen sogenannten Kollegen in der Burg behaupten konnte. Von Arschlöchern wie Harald Dettmann oder Frank Brenner zum Beispiel. Oder Verrätern wie Bruno Wolter und Sebastian Tornow. Selbst ein Andreas Lange spielte nicht immer mit offenen Karten und Leute wie Böhm und Gennat sowieso, ganz zu schweigen von den diversen Polizeipräsidenten, die er schon erlebt hatte.
»Was kann ich denn für Sie tun?«
Rath zündete die Zigarette an, bevor er sprach.
»Wenn ich in dieser Stadt einen Auftragsmörder suche, an wen wende ich mich da?«
Marlow lachte. »Herr Kommissar! Wollen Sie Ihren Vorgesetzten loswerden?« Dann wurde er wieder ernster. »Mich werden Sie für solche Dienstleistungen nicht heranziehen können und auch niemanden von der Berolina .«
»Und die Concordia ?«
»Die hält sich genauso an den Ehrenkodex wie die Berolina : kein Mord.«
Rath nickte. Die Ringvereine kontrollierten zwar das organisierte Verbrechen in der Stadt und waren auch sonst kein Zusammenschluss von Chorknaben, aber vor Mord schreckten die meisten zurück, jedenfalls die, die sich den Luxus eines Ehrenkodex leisteten.
Marlow schaute Rath skeptisch an. »Was wollen Sie wissen, Herr Kommissar?«
»Vergangene Woche ist ein Zeuge im Polizeigewahrsam ermordet worden. Von einem
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