Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Fußfessel bist du noch am selben Tag losgeworden. Und zwei Wochen später hattest du alles, was du sonst noch brauchtest. Einen neuen Namen, vier Adressen und genügend Tubocurarin, um damit einen Elefanten zu erlegen.
Das Rattern des Zuges lässt dich nicht schlafen, es frisst sich in deine Gedanken und lässt dunklere Erinnerungen nach oben steigen.
Das Vibrieren der Schienen.
Der Bahndamm im Kiefernwald bei Wartenburg.
Sobotka auf den Bahnschwellen, zwischen den Schienen, die Hände im Nacken. Die Fußkette, die euch verbindet, auf dem blanken Metall.
Du ziehst das Bein mit der Fußfessel nach außen, Sobotka zieht von seiner Seite, damit die Kette möglichst stramm auf der Schiene liegt.
Vom Zug ist inzwischen mehr als nur ein Vibrieren zu hören. Du hast nicht deinen Nacken geschützt, du hältst dir nur die Ohren zu, als er heranrauscht und immer lauter und lauter wird. Hältst dir die Ohren zu und ziehst die Kette stramm, wartest auf das Unvermeidliche.
Obwohl du dir die Ohren zuhältst, ist der Zug mit einem Mal so laut, dass du zu zittern beginnst, Schweiß perlt auf deiner Haut und lässt dich frieren, ein tosender Wind braust heran.
Du schließt die Augen und wartest, dass es endlich vorüber ist, doch es dauert eine Ewigkeit.
Brüllender Lärm fegt über dich hinweg, ein gewaltiges Quietschen und Donnern und Brausen, und dann spürst du einen Schlag, der dich durchrüttelt, ein Schlag an deinem Bein. Es schmerzt.
Du wagst nicht, dich zu bewegen, du wartest, bis das ohrenbetäubende Tosen endlich nachlässt und der Wind. Du hörst das Quietschen, wie das Quietschen sich entfernt, bis es schließlich verstummt.
Und dann öffnest du die Augen. Schmerzen an deinem rechten Bein. Du betastest es instinktiv, doch du fühlst keine Wunde: Die Kette hat sich gelöst und muss gegen dein Schienbein geschlagen sein, ein blauer Fleck, sonst nichts.
Vielleicht wirst du humpeln, aber du wirst weitergehen können. Und das müsst ihr, ihr müsst sehen, dass ihr euch schleunigst aus dem Staub macht. Der Lokführer hat den Zug angehalten und wird gleich Alarm schlagen. Es wird eine Weile dauern, bis sie hier draußen in der Wildnis sind und eure Spur wieder aufgenommen haben, aber ewig Zeit habt ihr nicht.
Du richtest dich auf. Dein triumphierendes Grinsen erstirbt, als du auf das Gleisbett siehst.
Sobotkas kraftvoller Körper in seiner Sträflingsmontur ist nahezu unversehrt, doch liegt er jetzt auf dem Rücken. Eine Hand fehlt. Und das Gesicht.
Irgendetwas ist gegen seinen Kopf geschlagen. Oder sein Kopf gegen den über ihn hinwegrasenden Zug geschleudert worden. Du weißt es nicht, du siehst nur, dass da, wo vor wenigen Minuten noch Sobotkas Grinsen saß, das jede Angst der Welt vertreiben konnte, nun nichts mehr ist, nur blutiger Brei.
Dir wird schlecht, doch die Angst lässt dich handeln, die Angst, wieder eingesperrt zu werden.
Irgendetwas anderes denkt für dich, als du deine Sträflingskluft ausziehst und mit der von Sobotka tauschst. Deine Nummer 466 / 20 mit seiner 573 / 26.
Und dann schlägst du dich in den Wald, so schnell wie möglich. Bevor der Lokführer kommt, bevor ein Suchtrupp kommt, bevor die Hunde kommen. Bevor sie den Toten finden mit der Sträflingsnummer 466 / 20.
Du läufst durch den Wald und schreist, trotz all der schrecklichen Dinge, die du gerade erlebt hast, überkommt dich ein nie gekanntes Hochgefühl. Es ist die Freiheit, die du spürst. Eine Freiheit, wie sie nur der Tod schenken kann.
93
E r hatte sie anlügen müssen. Wenigstens teilweise.
Dass er sich mit ihr nicht zum Mittagessen in der Polizeikantine treffen konnte, das stimmte tatsächlich, nur hatte er ihr nicht die ganze Wahrheit gesagt, warum das so war. »Bin im Außendienst«, hatte er gesagt, und er hatte tatsächlich einige der Zeugen abzuklappern, die Jakub Polakowski am Wochenende in Berlin gesehen haben wollten. Aber damit war er lange vor der Mittagspause durch; wie er sich das gedacht hatte, war der Besuch bei allen drei Leuten vergebliche Liebesmüh. Eine alte Dame verdächtigte ihren Nachbarn, der immer so laut Radio hörte, ein arbeitsloser Buchhalter hatte sich offensichtlich nur aus Langeweile bei der Polizei gemeldet, und lediglich der letzte Zeuge, ein Kioskbetreiber am Schlesischen Bahnhof, der Polakowski am Freitag gesehen haben wollte, war überhaupt ernst zu nehmen. Als Rath ihm das Foto zeigte, das doch deutlich schärfer war als der Abdruck in den Zeitungen, nickte er.
Weitere Kostenlose Bücher