Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
richtig stolz im Kreis Oletzko.«
Diesmal war es Rath, der schwieg und nur mit einem Nicken antwortete. Wer sagte es denn? Man musste nur Geduld haben mit diesen Ostpreußen. Dann fingen sie irgendwann sogar an zu reden.
31
D er Treuburger Marktplatz war groß, riesig groß. So groß, dass in seiner Mitte noch Platz für einen kleinen bewaldeten Hügel war. Auf der Spitze dieses Hügels thronte die Kirche, von der allein der Turm über die Baumwipfel lugte, an seinem Fuß standen ein paar Häuser, das Rathaus, daneben eine Schule und das Spritzenhaus der Feuerwehr. »Der größte Marktplatz Deutschlands«, hatte Kowalski angekündigt, und Rath glaubte ihm aufs Wort. Der Platz war so groß, dass man ihn erst einmal gar nicht als solchen wahrnahm. Schmucke Giebelhäuschen säumten seine vier Seiten; es war, als sei die Zeit stehen geblieben. Autos waren kaum zu sehen, in diesem Teil der Welt dominierten noch Pferdefuhrwerke den Straßenverkehr. Sogar ein paar Schafe trieben sich herum, die irgendwo ausgerissen sein mochten. Oder hier vielleicht sogar hingehörten, mitten in die Stadt.
Kowalski musste vor einem dieser verirrten Schafe abbremsen, und gleich darauf war der Dienstwagen der Königsberger Polizei von einer Horde Kinder umringt, die neugierig durch die Fenster glotzten. Kein roter Teppich und keine Blaskapelle, aber auch nicht gerade das, was Rath unter einer unauffälligen Ankunft verstand. Er verdrehte die Augen. Fehlte nur noch, dass die lokale Presse ein Foto schießen wollte und er sich ins Goldene Buch der Stadt eintragen musste.
Er schaute auf die Uhr. Noch keine zwölf. »Müssten die nicht in der Schule sein?«, fragte er.
»Große Ferien«, sagte Kowalski und trat aufs Gaspedal. Die Kinder sprangen beiseite und wurden im Rückspiegel immer kleiner, bis der W10 den Marktplatz verließ. Kowalski fuhr zu einem kleinen Fluss hinunter und über eine Brücke, sie passierten eine weitere Kirche und erreichten schließlich einen großen Backsteinbau, der majestätisch über dem Seeufer thronte. Das Landratsamt des Kreises Oletzko, wie das Schild mit dem preußischen Adler am Eingang verriet. Rath stieg aus und streckte seine schmerzenden Glieder. Kowalski schien sich auszukennen, und der Kommissar folgte seinem Adjutanten und Aufpasser ins Gebäude.
Sie mussten ein Vorzimmer mit einem bebrillten Fräulein passieren und landeten in einem Büro, in dem ein leicht korpulenter Mann residierte, der einen altmodischen Schnurrbart trug und eine blaue Uniform.
»Ah, der Besuch aus Berlin«, sagte der Uniformierte hinter dem Schreibtisch, nachdem Kowalski Meldung gemacht hatte und neben der Tür stehen blieb. »So früh haben wir Sie gar nicht erwartet! Nehmen Sie doch Platz.«
Rath setzte sich auf den Besucherstuhl und beneidete den Mann um den Ausblick, den das Fenster hinter dem Schreibtisch eröffnete: die Wasserfläche, die in der Mittagssonne glitzerte, ein paar schaukelnde Boote, der weiß getünchte Sprungturm einer Badeanstalt, tiefgrüne Baumwipfel am anderen Ufer. Er kam sich vor wie im Urlaub.
Rath zündete sich eine Zigarette an. »Haben wir gestern miteinander telefoniert?«, fragte er. »Polizeimeister Grigat?«
»Richtig. Erich Grigat. Freut mich, Sie in meiner bescheidenen Stube willkommen heißen zu dürfen. Es kommt nicht allzu oft vor, dass uns ein Kollege aus der Hauptstadt beehrt.«
»Sie leiten die Treuburger Polizei?«
»Sagen wir de facto. De iure ist natürlich Landrat Doktor Wachsmann der Polizeichef. Aber von all seinen Polizeibeamten bin ich der ranghöchste.«
»Eine schöne Aussicht haben Sie hier«, meinte Rath. »Ich sehe von meinem Büro nur auf die Stadtbahngleise und das Landgericht. Und das ist schon völlig verrußt von den vielen Zügen.«
»Ja, es ist schön hier. Sie sollten sich Zeit nehmen für unser Städtchen, es lohnt sich. Der See, der neue Park mit dem Kreiskriegerdenkmal.« Grigat stand der Lokalpatriotismus ins Gesicht geschrieben. »Haben Sie unseren Marktplatz schon gesehen? Der größte in ganz Deutschland! Sieben Hektar.«
Rath nickte und zog an seiner Zigarette. »Wirklich beeindruckend.«
Der Polizeimeister holte eine Mappe aus der Schublade. »Ich habe mir erlaubt«, sagte er, »schon einmal im Meldeamt nachforschen zu lassen. Und siehe da: Die Männer, die Sie mir durchgegeben haben, waren alle drei einmal bei uns im Kreis gemeldet.«
»Zwei wurden sogar hier geboren«, sagte Rath. »Haben Sie auch die Adressen?«
»Alles hier drin.«
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