Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
»wie wäre es mit einem Pillkaller zum Abschluss?«
Rath zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, ob ich noch etwas runterkriege.«
»Ist nur eine Kleinigkeit. Hilft beim Verdauen.« Grigat grinste und hatte auch schon die Hand gehoben. »Hella? Zweimal Pillkaller bitte!«
Kurz darauf kehrte das Mädchen an ihren Tisch zurück. Lange blonde Zöpfe. Richtig ungewohnt war so eine Frisur mittlerweile. Wenigstens in Berlin. Auf ihrem Tablett balancierte Hella zwei große Gläser Doppelkorn, auf denen jeweils eine Leberwurstscheibe lag, die dick mit Senf bestrichen war. Rath fand schon den Anblick ekelhaft.
»Die Wurst auf die Zunge legen, den Korn drübergießen und dann runterschlucken«, sagte Grigat und machte es vor.
Rath konnte dem Ritual noch weniger abgewinnen als dem Anblick der Spezialität. Ihm war überhaupt nicht wohl bei dem Gedanken, dies nun nachzumachen, doch Grigats erwartungsvolles Gesicht ließ ihm keine andere Wahl. Er fühlte sich wie ein Missionar, dem ein gastfreundlicher Eingeborenenstamm Affenaugen in Aspik kredenzt oder sonst etwas Ekelhaftes und der keine andere Wahl hat, will er nicht am Marterpfahl landen oder im Kochtopf. Also: Augen zu und durch! Es war ein elendes Gematsche in seinem Mund, schmeckte aber nicht so schlecht wie befürchtet.
»Das Ganze jetzt noch rund ein Dutzend Mal, so gehört sich das eigentlich.«
Grigat lachte, als er Raths entsetztes Gesicht sah.
»Keine Angst«, fuhr er fort, »den Pillkaller kippt man sich eigentlich erst abends hinter die Binde. Wenn man saufen will und zu wenig im Magen hat.«
»Soso.«
Rath beschloss, Polizeimeister Grigat heute Abend nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen. Und ebenso die weiteren Tage, die er sich in Treuburg aufhalten würde.
32
D ie Häuser am Legasteg waren allesamt klein und niedrig. Auf den Uferwiesen lagen Bettlaken zum Bleichen in der Nachmittagssonne. Der träge, müde Fluss, in dem sich der blaue Himmel spiegelte und die Bäume, die kleinen, windschiefen Häuschen – auf den ersten Blick wirkte das idyllisch, auf den zweiten Blick aber sah man die Armut. So dachte Rath, als er an der alten Adresse von August Simoneit klopfte und wartete. Eine Türklingel gab es hier nicht, an keinem einzigen Haus in dieser Straße. Die meisten hatten wahrscheinlich nicht einmal Strom. Er hörte Holzdielen knarzen, dann wurde ihm geöffnet. Wen er da vor sich hatte, in der dunklen Höhle des Hausflurs, konnte er zunächst gar nicht erkennen.
»Guten Tag«, sagte er freundlich, »entschuldigen Sie die Störung.«
»Wir kaufen nichts.«
»Ich möchte Ihnen nichts verkaufen.« Rath zeigte seine Marke. »Kriminalpolizei Berlin. Ich habe nur eine Frage.«
»Berlin?«
Mehr sagte der Mann nicht, der jetzt in die Sonne trat, um sich die Blechmarke anzusehen. Rath erkannte ein faltiges, dünnes Gesicht, blonde Haare, die zum größten Teil schon weiß waren.
»Es geht um August Simoneit«, sagte Rath, so freundlich er nur konnte. »Der hat hier einmal gewohnt. Können Sie sich noch an ihn erinnern?«
Der Mann schaute den Kommissar aus Berlin misstrauisch an und schüttelte den Kopf.
Dann machte er die Tür zu.
Nicht einmal unhöflich, er hatte sie nicht geknallt oder dergleichen, hatte sie einfach ohne ein weiteres Wort wieder geschlossen.
Wortkarg und blitzschnell , dachte Rath. So hatten sie im Kölner Polizeipräsidium über die westfälischen Kollegen gescherzt, die sich ab und an einmal ins Rheinland verirrten.
Rath klopfte erneut an und wartete. Es dauerte eine ganze Weile, ehe der Mann wieder öffnete.
Er schaute den Kommissar nur fragend an, sagte keinen Ton.
Rath hatte kein Foto von Simoneit, aber er hatte Fotos von den anderen Opfern, und die holte er jetzt aus dem Jackett und zeigte sie dem Mann. Der betrachtete sie ebenso eingehend wie schweigend. »Kennen Sie denn einen von denen?«, fragte Rath. »Haben beide mal in Treuburg gelebt.«
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Kenn ich nich«, sagte er.
Und schloss die Tür ein zweites Mal.
Rath gab es auf. Das war wirklich keine Unfreundlichkeit, das war Wortkargheit; so redete man wohl in diesem Landstrich. Oder redete eben nicht.
In der Schmalen Gasse, in der Wawerka gelebt hatte, bevor er in den Westen gezogen war, erging es ihm ähnlich. Nur dass hier eine Frau öffnete und sich noch wortkarger gab als der Mann vom Legasteg. Das ganze Gespräch bestand ihrerseits eigentlich nur aus Kopfschütteln, Nicken und misstrauischen Blicken. Von einem Johann
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