Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
Wawerka hatte sie nie etwas gehört.
Auch die Schmale Gasse war eher eine Arme-Leute-Gegend, Lamkaus Adresse in der Lindenallee dagegen konnte sich durchaus sehen lassen. Gediegene Bürgerlichkeit, ein properes Häuschen in einem gepflegten Garten. Rath klingelte vergeblich an der Gartenpforte, niemand öffnete. Er überlegte einen Moment, das Grundstück zu betreten und sich etwas umzuschauen, verwarf den Gedanken aber wieder. Er konnte förmlich spüren, dass irgendwelche Blicke auf ihm ruhten. Wahrscheinlich wartete die gesamte Nachbarschaft nur darauf, dass dieser Fremde in dem feinen Großstadtanzug etwas Verbotenes tat, damit man endlich die Polizei rufen oder besser noch: gleich selbst zur Schrotflinte greifen konnte.
Aßmann stand auf dem Emailschild an der Pforte. Rath notierte den Namen und machte sich auf den Weg zurück zum Marktplatz. Drei Uhr durch, doch die Sonne brannte immer noch unerbittlich heiß. Wenigstens wurden die Schatten jetzt wieder länger, und einige Geschäfte hatten ihre Markisen ausgefahren. Ein Werbeschild an einem der Häuser brachte ihn auf eine Idee.
Fahrschule Emil Hermann.
Rath klingelte und fragte den Fahrlehrer nach einem bestimmten Fahrschüler.
»Lamkau? Wann soll denn das gewesen sein?«
Wieder hörte Rath Misstrauen in der Stimme eines Treuburgers.
»Vor gut zehn Jahren«, sagte er.
Der Fahrlehrer, ein gut genährter Mann in den Fünfzigern, kratzte sich am Kinn, wohl um den Eindruck angestrengten Nachdenkens zu erwecken. Das Ergebnis einer halben Minute Kinnkratzen war ein bedauerndes Achselzucken. Und ein kurzer Satz.
»Ne«, sagte Emil Hermann, »keine Ahnung.«
»Aber ein Telefonbuch, das haben Sie vielleicht?«
Herr Hermann hatte. Der Fahrlehrer führte ihn durch eine Art Schulungsraum nach hinten zu seinem Arbeitszimmer. Schon als Rath das sogenannte Telefonbuch sah, ahnte er, dass auch diese Idee ihn nicht weiterbringen würde. Die Fernsprechteilnehmer Treuburgs passten allesamt, von Adomeit bis Zukowski, auf ein einziges Blatt, das über dem Fahrschultelefon an der Wand hing. Rath hatte vorgehabt, alle Wawerkas, Simoneits und Lamkaus aufzuschreiben, die er dort finden konnte, in der Hoffnung, so womöglich auf Verwandtschaft der drei Männer zu stoßen, aber das Einzige, was er fand, war die Telefonnummer eines gewissen Dietrich Aßmann, der Mann, der an Lamkaus alter Adresse wohnte. Wenigstens der hatte Telefon. Die Lamkaus, Simoneits und Wawerkas dieser Stadt hatten das nicht.
Rath klappte sein Notizbuch nach einem mageren Eintrag wieder zu.
»Ach, eine Frage noch«, sagte er, als Fahrlehrer Hermann ihn wieder zur Tür geleitet hatte, »das Gut Luisenhöhe, die Kornbrennerei Mathée, wie komme ich am besten dahin?«
Emil Hermann taxierte Rath von oben bis unten. »Zu Fuß vielleicht ’ne halbe Stunde«, sagte er schließlich, »oder Sie nehmen die Kleinbahn nach Schwentainen, die hält auch an der Luisenhöhe. Fährt aber nicht so oft.«
»Danke.«
Rath fand seinen unangeforderten Mitarbeiter und mutmaßlichen Aufpasser Anton Kowalski da, wo er ihn um kurz nach zwei zurückgelassen hatte: in den Katakomben des Landratsamtes, umgeben von einer Burg aus Karteikästen und Aktenordnern.
»Schon was gefunden?«
»So schnell«, sagte Kowalski, »schießen die Preußen nicht.«
Rath hatte dem Kriminalassistenten aufgetragen, die Archive nach den drei Namen zu durchforsten, »und wenn Sie in irgendeinem Zusammenhang auf alle drei stoßen, geben Sie mir sofort Bescheid«. Kowalski selbst hatte sich an keine Besonderheit erinnern können, die sich im Jahre 1924 in Treuburg oder Marggrabowa ereignet hatte. »Das muss aber nichts heißen. Ich war damals in Markowsken auf der Dorfschule, da bekommen Sie nicht mit, was anderswo auf der Welt passiert.«
Der Kriminalassistent war eigentlich gar nicht so wortkarg, dachte Rath, jedenfalls im Vergleich zu seinen Landsleuten.
Rath störte Kowalskis Erfolglosigkeit nicht sonderlich, er hatte ihn vor allem deswegen im Archiv zurückgelassen und mit Arbeit eingedeckt, damit er Ruhe vor ihm hatte.
»Dann ackern Sie heute Nachmittag mal die Ermittlungsakten aus dem Amtsgericht durch, vielleicht finden Sie da was«, sagte er. »Konzentrieren Sie sich auch da auf das Jahr vierundzwanzig.«
Kowalski nickte, wenig begeistert. »Und Sie?«, fragte er, »hatten Sie wenigstens Erfolg?«
»Wenn Sie damit meinen, ob ich mich jetzt etwas besser in Treuburg auskenne, lautet die Antwort: Ja.« Rath zündete sich eine
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