Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
die Tür wieder öffnete und diesmal nicht der arrogante Diener erschien, sondern der aalglatte Herr Fischer, Wenglers Privatsekretär.
»Guten Morgen, Herr Kommissar. Direktor Wengler kann Sie jetzt empfangen.«
Rath schaute auf die Uhr. Halb elf.
Der Herr der Luisenhöhe residierte in einem Büro, von dem man bis ins Tal auf den großen Backsteinschlot der Brennerei schauen und in der Ferne sogar den Treuburger Wasserturm erkennen konnte. Die Einrichtung war vom Stil her irgendwo zwischen preußischem Junkertum und modernem Büro angesiedelt. Auf dem geräumigen Schreibtisch stand ein schwarzes Telefon neben einem altmodischen Tintenfass samt Füllfederhalter und mehreren Karteikästen. An der holzgetäfelten Wand hing ein Ölschinken mit irgendwelchen Jagdszenen, direkt hinter dem Schreibtisch zwei Porträts. Das eine zeigte einen grauhaarigen Mann mit strengem, aristokratischem Blick, das andere, deutlich liebevoller gearbeitet, eine junge Frau. In strengem Kontrast zu diesen Ölgemälden, deren Würde durch altmodische Rahmen noch unterstrichen wurde, stand eine schmucklose, aber nicht weniger auffällige Grafik mit der Umsatzkurve der Luisenbrennerei seit 1920. Die Kurve zeigte deutlich nach oben, vor allem in den letzten Jahren. Trotz Wirtschaftskrise. Vielleicht auch wegen der Wirtschaftskrise. Je dreckiger es den Leuten geht, dachte Rath, desto mehr saufen sie.
Unter der Umsatzkurve lehnten Werbeplakate an der Wand, für Luisenbrand und für Treuburger Bärenfang. Das Motiv kannte Rath schon aus Berlin, aus Lamkaus Büro: der Bär mit der Flasche. Gut gemacht, keine Frage. Sah so aus, als solle der Bärenfang der nächste große Umsatzmotor der Firma Mathée werden.
Gustav Wengler hatte eine drahtige Figur, nicht der Typ feister Generaldirektor, den Rath erwartet hatte. Er stand auf, als der Besuch hinter dem übereifrigen Privatsekretär den Raum betrat.
»Herr Kommissar. Treten Sie doch näher. Entschuldigen Sie die kleine Verzögerung. Wichtige Gespräche, die leider keinen Aufschub duldeten.«
»Ich bin auch ein wichtiges Gespräch, das keinen Aufschub duldet.«
Wengler lachte. »Fischer, bringen Sie dem Herrn Kommissar doch etwas zu trinken. Kaffee? Tee? Wasser? Oder doch lieber einen Kornbrand? Davon habe ich am meisten vorrätig.«
»Danke, bin im Dienst. Aber ein Kaffee wäre nett.«
Privatsekretär Fischer verschwand.
»Ihren Kornbrand kenne ich schon«, sagte Rath. »Den bekommt man ja sogar in Berlin.«
»Aber deswegen sind Sie hoffentlich nicht hier«, erwiderte Wengler, »oder hat man meinen Korn als Mordwaffe missbraucht?«
»Woher wissen Sie, dass es um Mord geht?«
»Ich denke, ich weiß sogar, um welchen Mord es geht.« Wenglers Gesicht wurde mit einem Mal ernst. »Sie sind ein Kriminalkommissar aus Berlin, und dort ist mein bester Vertriebsmann ermordet worden. Ich kann auch eins und eins zusammenzählen.«
»Sie sind also im Bilde …«
»Edith Lamkau hat mir die traurige Nachricht vor ein paar Tagen übermittelt. Die arme Frau!«
Rath nickte. »Ja, Frau Lamkau hat’s nicht leicht. Sie wollen ihr helfen, hat sie erzählt …«
»Soweit ich das von hier aus leisten kann.« Wengler schaute ihn an. »Also, Herr Kommissar, warum sind Sie hier, was glauben Sie, hier bei uns zu finden?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht eine Antwort auf die Frage, warum Herbert Lamkau sterben musste.«
»Und wenn Sie die Antwort haben, finden Sie auch den Mörder?«
»So funktioniert das meistens, ja.« Rath schaute nachdenklich aus dem Fenster. Dicke Wolken qualmten aus dem Schornstein; die Brennerei schien auf Hochtouren zu laufen. »Haben Sie eine Vermutung, warum Herbert Lamkau sterben musste?«
Er hatte plötzlich gefragt, aus heiterem Himmel wie beiläufig seine Frage abgeschossen, doch Wengler blieb ruhig und schüttelte den Kopf. »Wenn Sie gehofft haben, das von mir zu erfahren, muss ich Sie enttäuschen, dann haben Sie sich umsonst herbemüht.«
»Zunächst einmal würde es mir schon reichen, überhaupt etwas mehr über den Menschen Herbert Lamkau zu erfahren. Bevor er nach Berlin ging und den Vertrieb von Luisenbrand übernahm, war er bei Ihnen … angestellt.«
»So ist es. Herbert war mein Betriebsleiter in der Brennerei.«
»Hat er auch andere Aufgaben für Sie erledigt?«
»Wie meinen Sie das?«
»Beispielsweise Polen verprügelt?«
»Herbert hatte sein Temperament bedauerlicherweise nicht immer im Griff.« An Wenglers Nasenwurzel hatte sich eine tiefe Falte
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