Die Akte Vaterland: Gereon Raths vierter Fall (German Edition)
statt in einem polnischen Staat.«
»Nicht mehr.«
»Wie?«
»Annas Mörder ist bei einem Fluchtversuch ums Leben gekommen. Die Menschen hier halten das für höhere Gerechtigkeit.«
»Und diese traurige Geschichte hat Gustav Wengler zu einem dieser Polenfresser gemacht, wie Sie sie genannt haben?«
»Wengler hatte es nie mit den Polen, schon vor dem Mord nicht, aber ein Polenfresser, das war wohl eher Herbert Lamkau. Der und seine Leute, die haben jeden brutal zusammengeschlagen, den sie für einen Polen hielten.«
»Aber hier leben doch keine Polen, wie Sie mir so schön erklärt haben. Auch wenn sie Polnisch sprechen.«
»Damals hat es oft schon gereicht, dass einer katholisch war oder sich freundlich zu Polen geäußert hat. Da flogen dann schnell die Fäuste. Wenn Sie also Menschen suchen, die Grund haben, Herbert Lamkau zu hassen, dürften Sie hier eine Menge finden.«
»Könnte es sein, dass ihm jemand den Tod gewünscht hat? Eines seiner Opfer?«
»So weit würde ich nicht gehen. Aber viele Leute hier weinen ihm sicherlich keine Träne nach. Auf beiden Seiten der Grenze.«
»Zu denen gehören Sie auch?«
Rammoser zuckte die Achseln. »Ich bin einmal mit ihm aneinandergeraten, damals in der Abstimmungszeit, da war alles ziemlich hitzig hier. Aber das ist längst vergessen. Ich war dann ein paar Jahre auf dem Lehrerseminar, und als ich zurückkam, lebte Lamkau nicht mehr hier.«
»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, sagte Rath, »an Lamkau lassen Sie kein gutes Haar, und Wengler, für den er sich doch geschlagen hat, nehmen Sie in Schutz. Oder warum haben Sie mir die rührselige Geschichte eben erzählt?«
»Ich will Ihnen gar nichts erzählen und auch niemanden in Schutz nehmen. Ich bin weiß Gott kein Freund von Gustav Wengler, ich will nur, dass Sie ein bisschen besser verstehen, was hier passiert ist nach dem Krieg. Die Gegenwart versteht man nur, wenn man die Vergangenheit kennt.«
Jetzt klang Rammoser wieder wie ein Lehrer. Der Lichtkegel wanderte auf den Namen, den Rath vorhin schon gesehen hatte:
Friedrich von Mathée * 23 . November 1847 † 2 . Mai 1924
»Gustav Wengler war der designierte Erbe der Luisenhöhe«, fuhr Rammoser fort, »Friedrich von Mathée hatte nur diese eine Tochter, die wollte er mit seinem Verwalter verheiraten. Alle seine Söhne sind im Krieg gefallen.«
»Gustav Wengler war der Verwalter des Guts?«
Der Lehrer nickte. »Er hätte die Luisenhöhe ohnehin geerbt, aber er hat sie vorher vom alten Mathée übernommen, wegen irgendwelcher Schuldengeschichten, und deswegen hat es im Ort einiges Gerede gegeben, vor allem, weil er sich seitdem eine goldene Nase verdient hat mit Luisenbrand.«
»Ich glaube, eine lebendige Braut wäre ihm lieber gewesen.«
»Und ich glaube, dass er sich nur wegen ihres Todes so in die Arbeit gestürzt hat. Er hat die Luisenhöhe groß gemacht und den Namen Mathée im Andenken an seine ermordete Verlobte, die er niemals zum Altar führen konnte.«
Rath merkte, wie er zitterte. Es war kalt geworden. »Lassen Sie uns zurückgehen in den Kronprinzen «, sagte er. »Nach diesen Geschichten brauche ich erst mal einen Schluck. Und ein bisschen Licht und Leute um mich rum.«
Als sie auf den Marktplatz zurückkehrten, brannte in kaum einem Haus noch Licht, auch die Straßenlaternen waren bereits erloschen. Rath leuchtete ihnen den Weg mit der Taschenlampe. Als der Lichtkegel die Litfaßsäule an der Ecke Bahnhofstraße erfasste, scheuchte er zwei Gestalten auf, mit Quast und Eimer bewaffnet, die sofort das Weite suchten.
Beinahe hätte Rath ihnen reflexartig ein »Stehen bleiben! Polizei!« hinterhergerufen, doch er beherrschte sich.
»Was war denn das?«, fragte er den Lehrer.
»Ich vermute mal, da haben wir Albrecht und Rosanski aufgeschreckt.«
»Wen?«
»Unsere Kommunisten hier am Ort. Sie müssen nicht denken, dass Sie so etwas nur in Berlin haben.«
»Ich fürchte, wir haben mehr als zwei.«
Rath näherte sich der Litfaßsäule und fand drei Wahlplakate noch feucht vom Kleister, ordentlich nebeneinandergeklebt. Die Plakate der anderen Parteien waren unversehrt, nicht einmal das der Nazis angerührt. Keine Schnurrbärte angemalt, keine Ecken abgerissen.
»Ich dachte, wir hätten die bei Sabotage gestört. Dabei haben die nur brav ihre Plakate geklebt.« Er schüttelte den Kopf. »Frage mich, warum die weggelaufen sind, wenn sie nichts Böses getan haben.«
»Wenn Sie Kommunist wären und hier in
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