Die Albenmark: Elfenritter 2 - Roman
Aasgeruch, der den Turm erfüllte.
Drei Tage lang hatten sie unter der Anleitung von fünf Gevierten am steinernen Sarkophag für ihren Kameraden gearbeitet. Drei Tage, und doch war nur wenig mehr als die Hülle fertig. Hunderte Stunden würden sie noch mit Steinmetzarbeiten verbringen, um den unbearbeiteten Wülsten, die sich über die geglätteten Steinflächen erhoben, Efeu- und Lorbeerranken abzuringen. Nur der Wappenschild würde bleiben, wie er war. Eine scharf abgegrenzte Fläche. Leer.
Gishild hatte Daniels Tod überwunden, aber dass er in einem Sarg ohne Wappen ruhen würde, erfüllte sie mit Zorn. Es war nicht gerecht! Ein paar Tage noch, dann würde ihre Lanze ihr Wappen erhalten. Doch Daniel war zu früh gestorben. Sein Wappenschild würde weiß bleiben, für immer, obwohl er fast ein Jahr lang alle Mühsal mit ihnen geteilt hatte.
»… Daniel war still gewesen. Keiner, der mit einem Lächeln ein Herz eroberte.« Gishild sah, wie Drustan kurz in Raffaels Richtung blickte. Bernadette wurde rot. Und Raffael … Er lächelte. Die Prinzessin war überrascht, wie gut ihr Magister sie kannte. Joaquino hatte von alldem nichts
bemerkt. Er war ein guter Anführer, aber manchmal war er erschütternd ahnungslos.
»Ich denke, viele von euch werden das Gefühl haben, ihn kaum gekannt zu haben. Nichts von ihm zu wissen. Ja, vielleicht werden einige sogar gedacht haben, besser er als ein anderer, der uns näher steht.«
Die Worte erschreckten Gishild. Es war, als habe Drustan in ihr Herz geblickt. Aber er sah sie jetzt nicht direkt an. Ob andere genauso gedacht hatten wie sie? Daniel war einfach da gewesen. Er hatte nichts Bedeutsames geleistet. Im Guten nicht und auch nicht im Bösen. Er war kein besonderer Fechter oder Schwimmer gewesen. Niemand, dem das Lernen auffallend leicht oder schwer gefallen war. Er war ein Name, ein Gesicht … Aber er hatte keine tiefen Spuren in ihr hinterlassen, dachte Gishild. Er war wie sein Wappenschild: weiß, leer.
»Schämt euch keines eurer Gefühle«, sagte Drustan eindringlich. »Schämt euch nicht, wenn ihr glücklich seid, dass der Tod nicht zu euch gefunden hat oder zu jemandem, den ihr liebt. Schämt euch nicht, wenn ihr keine Tränen vergießen könnt. Ein ehrliches Gefühl ist niemals fehl am Platz, auch wenn es manchmal klüger sein mag, es nicht auszusprechen. Seid aufrichtig genug, keine falschen Tränen zu vergießen. Zeigt alle in dieser Stunde euer wahres Gesicht. Und glaubt mir, ganz gleich, was ihr jetzt empfindet, es wird der Tag kommen, an dem euch klar wird, welche Lücke Daniel hinterlassen hat. Auch wenn es euch nicht bewusst ist, wir alle sind wie ein großer Rosenbusch. Und Daniel ist eine Knospe, die nicht erblühen durfte. Er wird uns in unserer Schönheit fehlen. Mit ihm wären wir vollkommener gewesen.«
Plötzlich spürte Gishild einen Kloß im Hals. Sie dachte an Luc. Drei Tage lang war sie ohne Nachricht von ihm. Drei
entsetzlich lange Tage. Jeden hatte sie nach ihm gefragt. Drustan, Michelle, Alvarez, ja, sie war sogar zu Lilianne gegangen, obwohl es ihr schwer fiel, der Ritterin seit dem missglückten Diebstahl des Adlerbussards in die Augen zu sehen. Aber niemand hatte eine Antwort für sie gehabt. Sie hatte sogar versucht, Leon zu erreichen, doch der Primarch hatte keine Zeit für sie gehabt.
Würde auch Luc eine Knospe sein, die ihrem Rosenbusch verloren ging? Seit sie ihn von Bord geholt hatten, hatte sie sich den Kopf zermartert, wie sie ihm helfen könnte. Und sie war immer nur zu einer Lösung gelangt: Leon war der Schlüssel. Er allein entschied, was geschah, ob Luc frei war oder in Ketten. Oder sogar Schlimmeres …
Drustan hatte seine Totenrede beendet. Einer nach dem anderen traten sie nun an den offenen Steinsarg und nahmen mit ein paar geflüsterten Worten Abschied. Manche gaben ihm ein kleines Geschenk, eine Blume oder eine Münze.
Als Gishild an den Sarg trat, zog sie einen kleinen, gefalteten Zettel hinter ihrem Gürtel hervor. Gestern Nacht erst war ihr eingefallen, wie sie sich von Daniel verabschieden könnte. Sie hatte es Drustan gesagt, und er hatte ihr erlaubt, in seiner Kammer zu bleiben, während die anderen Novizen schliefen, ja, er hatte ihr sogar geholfen.
Gishild faltete den Zettel auseinander. Darauf war ein Wappenschild gemalt. Er zeigte einen roten, steigenden Löwen und gegenüber, auf der Herzseite, die Bluteiche des Ordens. Über beiden aber war ein breiter Balken auf dem Schild, und dorthin hatte Gishild
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