Die Albenmark: Elfenritter 2 - Roman
hoch über sein Haupt erhoben.
Luc atmete schwer aus.
»Das hast du gut gemacht«, sagte Honoré. »Doch nun ist es an der Zeit, deine besondere Gabe zu nutzen.«
Das wollte er ja, aber der Schatten! Luc presste die Lippen zusammen und schloss dann die Augen. Er durfte nur noch an die Wunde denken. Er spürte das zerschundene Fleisch unter seinen Händen. Den Schorf von getrocknetem Blut. Hinter sich hörte er den Atem von Leon. Nicht an ihn denken! Nur die Wunde zählte jetzt!
Luc atmete langsam aus. Es war wie in einem Schwertkampf. Er musste entspannt anfangen, ohne Furcht. Sonst hätte er schon halb verloren.
Kalter Schweiß bedeckte seine Handflächen. Er zwang sich dazu, langsam und regelmäßig zu atmen. Er fühlte seinen Herzschlag. Es gab nur noch ihn und Frederic.
Luc spürte die Wärme an den Wundrändern. Bald würde sich die Verletzung entzünden. Dann gab es keine andere Rettung, als das Bein abzunehmen. Es lag nun buchstäblich
in seiner Hand, ob Frederic ein Krüppel sein würde oder bald wieder auf zwei gesunden Beinen laufen könnte.
Luc wünschte, Tjured hätte ihm nicht diese geheimnisvolle Gabe verliehen. Sie brachte ihm nichts als Ärger. Doch jetzt war nicht der Augenblick, mit dem Schicksal zu hadern! Der Junge suchte nach der Kraft, die ihm erlaubte zu heilen, doch um ihn herum gab es nichts. Er machte etwas falsch … Schweiß trat ihm auf die Stirn. Er strengte sich erneut an. Er öffnete sich, bereit, alles aufzunehmen …
Sehr deutlich spürte er jetzt die Anwesenheit von Honoré und Leon. Obwohl er seine Augen geschlossen hielt, konnte er sie sehen. Die ganze Kammer konnte er sehen, so als schwebe er hoch unter der Decke. Aber die Kraft, nach der er suchte, die Kraft, die ihm erlauben würde, Frederics Bein zu retten, war nicht da.
Erneut schlich sich die Angst in Lucs Gedanken. Er dachte an das Schwert über seinem Nacken. Wie lange würde Leon noch warten? Er drückte seine Hände fester auf die Wunde, damit er nicht zu zittern begann.
Frederic stöhnte.
Der Junge biss die Zähne zusammen. Es musste doch … Da war etwas, links von ihm. Hinter einer dicken Mauer. Endlich! Er hatte sie gefunden! Luc atmete aus, und mit dem Atem floss die Angst aus ihm heraus. Seine Hände wurden ganz warm. Es war eine gute Wärme, ganz ohne Schweiß. Er konnte das Heilen der Wunde fühlen.
Und dann kam der Schrei. Plötzlich, ohne Vorwarnung. Ein Schrei, wie Luc ihn noch nie gehört hatte. Unglaublich laut und von einer Qual, die einem die Seele erzittern ließ. So musste es sich anhören, wenn Gott selbst einen Sünder strafte.
Luc öffnete die Augen. Er wollte sich schon umdrehen, da sah er den Schatten des Schwertes seinem Schatten auf der Decke des Krankenlagers entgegeneilen.
DER ERSTE GAST
Feiner Mörtelstaub tanzte im goldenen Sonnenlicht. Der Geruch von frisch gemähtem Gras lag in der Luft. Die Kanthölzer des Baugerüsts umstanden sie wie Ehrenwachen. Goldene Harztränen perlten aus den Herzen der toten Bäume.
Die Löwennovizen standen im Halbkreis um den offenen Steinsarg an der Nordwand ihres Totenturms. Sie hatten das Deckengewölbe im Erdgeschoss noch nicht einmal begonnen. Es gab keine Tür und keine Fenster. Der Boden war mit Holzspänen und Abfällen bedeckt. Alles war unfertig. Nur Daniels Leben war vollendet. Vor der Zeit.
In weiße Tücher gehüllt, lag er im steinernen Sarg. Auf seiner Brust ruhte sein Rapier, das nie in einem Kampf geführt worden war. Obwohl sich die Balsamierer alle Mühe gegeben hatten und der Leichnam in einem versiegelten Bleisarg zur Ordensburg gebracht worden war, war das Gesicht des Löwen eingefallen. Seine geschlossenen Augen lagen zu tief im Schädel, die leicht geöffneten Lippen hatten eine dunkle Farbe angenommen.
In zwei Feuerschalen neben dem Sarkophag glomm Weihrauch, doch vermochte sein Duft den Odem des Todes nicht zu besiegen. Es roch nach Fäulnis. Zu viele Tage waren vergangen,
seit die Heiliger Zorn von ihrer Wut zerrissen worden war und glühende Bronzesplitter Daniels Leben ausgelöscht hatten. Niemand konnte den Geruch des Todes so lange im Zaum halten. Schon gar nicht zur Mittsommerzeit!
Gishild fühlte sich seltsam leer. Etliche ihrer Kameraden vermochten die Tränen nicht zurückzuhalten, während Drustan von Daniels Leben erzählte. Doch die Prinzessin starrte nur auf das eingefallene Gesicht, und sie hatte das Gefühl, das Einzige, was ihr von der Grablegung für immer in Erinnerung bleiben würde, sei der
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