Die Albertis: Roman (German Edition)
Paul war so verblüfft, dass er sich nicht wehrte. Mehr noch: Es gefiel ihm. Es war eine ungewöhnliche und einzigartige Erfahrung, es war das erste Mal für sie beide. Am nächsten Morgen war ihre Freundschaft wie verwandelt. Sie hatte sich nicht vertieft, sondern nur verändert: Ein Schleier seltsamer und unerklärlicher Fremdheit hatte sich darüber gelegt. Sie sprachen kein Wort über die vergangene Nacht. Sie mieden es, sich in die Augen zu sehen. Nie wieder kamen sie sich so nah. Paul, der immer ein Anfasser gewesen war, merkte, dass Wolf selbst dann zurückschreckte, wenn er nur arglos ihm den Arm auf die Schulter legte oder ihn in irgendeiner Weise berührte. Als sie sich New York näherten, wurde Wolf immer stiller. Paul beobachtete, dass er damit begann, seine Sachen zusammenzupacken. Dann eröffnete Wolf ihm, dass er in New York von Bord gehen werde. In knappen Worten erklärte er, dass er beabsichtige, früher zurückzufliegen, um zu versuchen, sich schneller als geplant einen Studienplatz der Hamburger Kunsthochschule in der Armgartstraße zu ergattern. Widerspruch und Nachfragen verboten sich. Sie baten den Kapitän, ihnen über Funk ein Hotelzimmer zu organisieren. Unrasiert, braun gebrannt und mit kniekurz abgeschnittenen Jeans standen sie schließlich an der Rezeption des Sheraton -Hotels in der 6th Avenue, wo ein arroganter Portier sie von oben bis unten musterte und fragte, ob sie sicher seien, in diesem Hotel eine Reservierung zu haben. Die so heiter und unbeschwert begonnene Reise wurde kompliziert. Ihre dreihundert Dollar, die sie sich zur Sicher-heil und als Notgroschen, wie Pauls Mutter sagte, in Hamburg eingesteckt hatten, reichten weder für die Übernachtung noch für Rückflüge, Kreditkarten besaßen sie nicht, und ihre Schecks wurden nicht akzeptiert. Streit lag in der Luft. New York war laut und hässlich zu ihnen, denn kaum eine Stadt ist so grausam zu Menschen, die kein Geld haben, wie diese Metropole. Paul und Wolf verkrachten sich und wechselten kaum noch ein Wort miteinander. Wolf, der das Chaos deshalb so abgrundtief hasste, weil er ein Meister darin war, es zu verursachen, flippte aus. Sie prügelten sich nachts in Chinatown, und ein Passant rief die Polizei und sie mussten abhauen. Danach klingelte Paul verzweifelt seine Mutter aus dem Bett und überredete sie, wiederum über Freunde, Geld und Tickets zu organisieren. Als sie wieder in Hamburg landeten, war ihre Freundschaft beendet. Als Wolf sein Kunststudium begann, hatten sie sich endgültig aus den Augen verloren.
Ein halbes Jahr darauf las er in der Zeitung, dass Pauls Vater gestorben war. Typisch Wolf: Er ging zur Beerdigung, und er kam zu spät. Die Trauergemeinde hatte sich längst aufgelöst. Nur Paul stand noch da, in seinem schmalen schwarzen Abiturientenanzug, die Hände in den Taschen vergraben, den Kopf gesenkt, starrte er auf die schon welkenden Blumenkränze, auf die Gebinde, die weißen Schleifen, zurechtgezupft damit man die schwarzen Zeilen lesen konnte, die wie Kapitelüberschriften wirkten: Ein letzter Gruß, du fehlst uns so, In tiefer Trauer, Unvergessen.
Als Wolf neben ihn trat, so, als würde er sich heranschleichen, stumm, so, als gäbe es nichts zu sagen, drehte Paul seinen Kopf zur Seite, zu ihm hin, und Wolf sah, dass Paul nicht weinte. Sie umarmten sich. Es war keine zärtliche Umarmung, keine innige, nicht einmal eine freundschaftliche. Sie umarmten sich kurz, heftig, und beiden schien es, als würde der andere den verlorenen Freund daraufhin abklopfen, ob er noch Waffen bei sich trüge. Als sie sich losließen und sie nebeneinander stehend auf die Grabstätte blickten, sagte Wolf nur leise: «Scheiße», und Paul antwortete «Ja» und das war der Neubeginn. Sie waren nun erwachsen und mit ihnen ihre Freundschaft. Alles war anders geworden. Unbewusst entwickelten sie sich zu Konkurrenten. Weil Paul Sybille hatte, setzte Wolf alles daran, auch eine Freundin zu finden. Eine Zeit lang schlief er mit jeder Frau, die er kriegen konnte. Als er Annette auf jener Studentenparty traf und merkte, dass sie auch Paul gefiel, entschloss er sich, sie zu heiraten. Dass Anne schon bald schwanger wurde, gefiel ihm. So wurde die Idee zur Doppelhochzeit geboren, und so geschah es auch, vor langer Zeit. Wie viel war seitdem geschehen. Und sie waren noch immer Freunde.
«Paul!» Sybille stand vor ihm mit einem Stapel kleiner Teller. «Hörst du das nicht? Kannst du nicht wenigstens rangehen?»
Im Wohnzimmer
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