Die Albertis: Roman (German Edition)
zu gehen. «Nu is genug, Walter.»
«Ach, wenn's man genuch wär.»
«Nu geh nach Haus.»
«Was soll ich da.»
«Deine Frau wartet.»
«Die wartet schon lange nich mehr.»
Irgendwann dann machte er sich endlich auf den Heimweg. Oft hatte Paul ihn nachts aus einem Straßengraben geholt, in den er gestürzt war, ihn medizinisch versorgt und nach Hause gebracht. Dieses Mal jedoch lag der Fall anders. Dieses Mal hatte er sich nicht betrunken. Sondern sich nüchtern und mit klarem Kopf an einem Querbalken der Scheune erhängt. Als Paul langsam, so, als wolle er niemanden erschrecken, auf den Hof gefahren kam, den Motor abstellte und ausstieg, lag Totenstille in der Luft. Er sah sich um: Das Fahrrad stand am offenen Scheunentor. Im Schatten der Kastanie ruhte ein rostiger Traktor. Zwei Hühner pickten zwischen den staubigen Feldsteinen des Vorplatzes. Auf einer Holzbank vor dem Bauernhaus, von dessen Fassade der Putz bröckelte, sonnte sich eine Katze. Hoch oben jagten blitzend Schwalben durch die Luft. Paul ging ins Haus. Frau Merk saß in der Küche am Tisch und wartete auf ihn. Sie trug Schwarz. Auf dem Land war man auf Todesfälle vorbereitet. Wie erstarrt schien sie, der Schock war ihr in die Glieder gefahren, sie hatte ihren Mann gefunden, als sie nichts ahnend in die Scheune gegangen war. Ein grauenvoller Anblick. Selbst Paul musste sich angesichts des Toten einen Moment besinnen, ehe er tat, was zu tun war. Die Polizei kam. Paul rief ein Beerdigungsinstitut an, und eine Nachbarin, die sich um Frau Merk kümmern sollte. Dann stellte er den Totenschein aus und gab der Witwe eine Beruhigungsspritze, ehe er zurückfuhr.
Zwei Stunden später trat er wieder auf die Terrasse seines Hauses. Niemand saß mehr dort. Der Kaffeetisch war abgegrast. Volle Aschenbecher. Halb leere Limonadenkrüge. Nur noch Krümel auf den Kekstellern. Eine aufgerissene Tafel Milchschokolade, deren Reste in der Sonne schmolzen. Zwei übrig gebliebene Stücke mit Rhabarberkuchen. Eine Tasse mit kaltem Tee. Im Champagnerkühler eine ungeöffnete Flasche mit Weißwein, im Wasser schwammen ein paar letzte Eiswürfel. Paul goss sich Mineralwasser in ein Glas, trank es in einem Zug aus und guckte dabei in den Garten. Hinten, dort wo er sich vorhin ausgeruht hatte, lag Anne in einem Holzliegestuhl und schien zu schlafen. Er lächelte. Leise ging er über den Rasen zu ihr. Als sein Schatten sich über sie legte, öffnete Anne die Augen.
«Paul!» Sie wollte hochkommen.
Er beugte sich zu ihr hinunter. «Bleib liegen!» Sie küssten sich auf die Wangen.
«Wo warst du?», fragte sie und richtete sich auf.
«Bei einer Patientin. Wo sind die anderen?»
Anne zeigte zum Haus hin. «Die Jungs sitzen oben im Studio. Vor dem Computer natürlich.»
«Und Wolf?» Er ließ sich neben ihr ins Gras fallen, sah sie an.
«Er wollte mit Sybille die Mädchen vom Reiten abholen.»
«Ach so.»
Sie schwiegen eine Weile. Paul legte seine Hand auf den Liegestuhl und berührte dabei fast unmerklich Annes rechtes Bein. Ganz selbstverständlich strich sie ihm über die Hand. «Schön», sagte sie, «schön ist es bei euch.»
«Ja.»
«Ist irgendwas?», hakte sie nach.
Er schüttelte den Kopf.
«Du hast doch was!»
«Nein. Nix.»
Für einen Augenblick schien es, als hätten sie sich nichts zu sagen, als suche jeder nach einem Thema. Beide holten Luft, sprachen im selben Moment: «Und was machen ...» – «Wie geht's eigentlich ...?» Sie lachten.
Paul machte eine Handbewegung: «Bitte. Du zuerst.»
«Nein, du.»
«Und nach einer Stunde waren sie noch nicht weiter.»
«Das wäre das erste Mal bei uns, Paul.»
«Ich wollte eigentlich nur wissen: Was macht der Älteste? Wie geht es unserem Herrn Edward?»
«Na ja ...» sie lehnte sich wieder zurück, legte ihre Hände an den Kopf und sah nach oben, in den wolkenlosen Himmel. «Das leidige Thema Abi ist ja nun durch. Und ich mache drei Kreuze. Aber glaub mal nicht ...»
Paul unterbrach Anne: «Scheiße! Scheiße! Ich habe das völlig vergessen. Ich habe ihm nichts geschenkt. Ich bin ein lausiger Patenonkel. Verdammt. Du hättest mich ja auch mal erinnern können. Jetzt ärgere ich mich.»
«Das macht doch nichts.»
«Natürlich macht das was. Ich könnte ihm ...», er dachte eine Weile nach, «... ich habe ja noch die Armbanduhr meines Vaters, weißt du, die alte Patek ...»
«Völlig übertrieben.»
«Glaubst du, er würde sich darüber freuen?»
«Klar würde er sich darüber freuen, aber
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