Die Albertis: Roman (German Edition)
klingelte das Telefon.
«Jaja ...», murmelte er nur und ging hinein. Während sie weiter den Tisch deckte, hörte sie, wie er sich drinnen meldete und nach einem Moment des Schweigens ein paar Worte sprach. Kurz darauf kehrte Paul zurück.
«Ich muss noch einmal los.»
«Los?»
«Zu Frau Merk ...»
«Wieso? Wir haben keinen Dienst!»
«Es ist was mit ihrem Mann ...» Er verschwand. Eilig ging er durch das kühle Wohnzimmer, von dem eine Treppe in die obere Etage führte. Durch den schmalen, langen Flur trat er ins Ankleidezimmer, das an das gemeinsame Schlafzimmer angrenzte, und zog sich schnell um. Er liebte diesen Raum, den er beim Einzug nach seinen Wünschen von einem Tischler hatte einrichten lassen. In die Decke eingelassene Punktstrahler verströmten ein klares, warmes Licht. Hinter verglasten Schiebetüren, die sich fast lautlos beiseite schieben ließen, verbargen sich begehbare Kleiderschränke mit Schubladen, Fächern, Kleiderstangen. Seine Anzüge, Sakkos, Hemden, die Krawatten und die Wäsche, Strümpfe, Pyjamas, Morgenmäntel, die Wintergarderobe von Kunststoffhüllen geschützt, korallenfarbene Hermès -Kartons in allen Größen, Reisetaschen, Koffer, Schuhe und die Steifftier-Sammlung aus den Kindertagen: alles war sorgfältig ausgewählt und alles war geschmackvoll und teuer. Es roch nach Parfüm und nach Holz, nach Wohlhabenheit und Stil. Dies war sein Haus. Fast vierhundert renovierte Quadratmeter hinter Backsteinmauern aus den zwanziger Jahren, vom Studio unter dem Dach bis zum sauber gekachelten Keller, von der Praxis, die durch einen separaten Eingang zu betreten war und links des Gebäudes lag, bis zum halbrunden Wintergarten auf der anderen Seite: Alles war nach seinen Vorstellungen restauriert, renoviert und eingerichtet worden. Parkett, Vertäfelungen und Stuckdecken, grauer Marmor und schwarze Steinintarsien, die Wände geputzt und cremefarben gestrichen, sorgfältig ausgewählte moderne Möbel, Antiquitäten und Kunst, von denen seine drei Gemälde von Karl Hofer, die er auf Auktionen ersteigert hatte, sein besonderer Stolz waren, vor allem aber die drei Kamine, die er im Wohn-, Schlaf- und Herrenzimmer hatte einbauen lassen, schenkten ihm das Gefühl von Behaglichkeit und Angekommensein. Ja, Paul war ein glücklicher Mann. Und doch gab es etwas, versteckt im hintersten Winkel seiner Seele, das manchmal und sehr leise nach mehr rief, nach etwas, das fehlte, etwas, das nichts mit materiellen Werten und mit Status zu tun hatte. Wann immer aber er diesen Ruf zu hören glaubte, machte er eine schalldichte Tür zu, verschloss sie, legte den Schlüssel weit weg, dorthin, wo er hoffte, ihn nie wieder zu finden.
Paul stieg in eine lange Hose und zog ein weißes Baumwollhemd an, weiße Socken und Tennisschuhe, band eine Armbanduhr um, steckte ein frisches Taschentuch ein und rannte dann hinunter, um in der Praxis sein Handy und seinen Arztkoffer zu schnappen und in der Diele vom Silbertablett auf der Kommode seine Schlüssel. In der Garage angekommen, öffnete er mit der Fernbedienung das elektrische Tor, stieg in seinen BMW Kombi, startete ihn und rollte langsam in den Garten. Auch die eiserne Gartenpforte öffnete sich automatisch. Paul gab Gas, fuhr vom Grundstück herunter, bog links in die Allee und raste davon.
Er bemerkte nicht, dass aus der anderen Richtung in diesem Moment seine Freunde vorgefahren kamen, in Gedanken war er schon am Ziel. Das Ehepaar Merk, das mit Mühe und Not einen kleinen, abseits gelegenen Hof bewirtschaftete, gehörte schon seit Jahren zu seinen Patienten. Sie waren beide Anfang sechzig und kinderlos geblieben. Bauer Merk war im Ort eine traurige Berühmtheit. Er trank. Schon morgens hatte er eine Fahne. Jeden Tag sah man ihn auf der Straße oder einem Feldweg auf seinem klapprigen Rad sitzen, und niemals wusste man, wohin er eigentlich fuhr. Manchmal, wenn er sehr betrunken war, schob er sein Rad, stur, unbeirrbar lenkte er es, so als geleite er einen schwachen, alten Freund. Abends lehnte es an der Wand neben dem Eingang zum Gasthaus Fasanenhof, wie ein treuer Hund, der auf sein Herrchen wartete. Bauer Merk saß drinnen am Tresen, kippte sich ein Bier und einen Schnaps nach dem anderen hinunter und redete mit niemandem außer sich selber. Undeutlich grummelnd erklärte er sich den Lauf der Welt, der aus seiner Sicht von Ungerechtigkeit bestimmt war. Wenn er nicht mehr sitzen konnte und drohte, vom Stuhl zu fallen, ermahnte der Wirt ihn, endlich nach Hause
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