Die Albertis: Roman (German Edition)
ich ...» Sie waren auf der Terrasse angelangt. «Soll heißen: Warum helfen sie dir nicht, den Kaffeetisch zu decken?» Paul entgegnete nichts. Er steckte den Sonnenschirm, der auf den Steinfliesen lag, in den Zementfuß und spannte ihn auf. Gemeinsam und wortlos packten sie und er jeweils ein Ende des Teakholztisches an, hoben ihn hoch und stellten ihn in den Schatten. Dann gruppierten sie die Gartenstühle drumherum. Sybille zählte stumm durch: neun Personen. Es war ein bisschen eng, aber es ging. Die Kinder würden ohnehin nicht lange sitzen bleiben, das kannte man ja schon.
Man kannte sowieso alles: Familie Alberti aus Hamburg besucht die Familie Ross in Ahrensburg. Ein wohlvertrautes Ritual. Sonntagsausflug. Kaffeebesuch. Essen, trinken, lachen, tiefe Gespräche, lange Spaziergänge, Abschied erst um Mitternacht. Praktisch seit zehn Jahren ging das so, seit Paul hier draußen, «auf dem Land», wie er zu sagen pflegte, die Arztpraxis übernommen und mit seiner Familie hierher gezogen war. Anfangs kam Wolf öfters auch allein, unter der Woche, weil er glaubte, im Garten seines Freundes die besten Inspirationen zu bekommen. Stundenlang saß er dann hinten unter dem Baum, unter dem Paul eben gelegen hatte, auf einem Klappstuhl, ein Notizbuch vor sich auf den übereinander geschlagenen Beinen, einen großen Leinenhut auf dem Kopf, eine filterlose Zigarette zwischen den Lippen. Auf einem Beistelltisch neben sich stand ein Aschenbecher, den er jede halbe Stunde leerte, daneben lag eine Zigarrenkiste, aufgeklappt, in der Bleistifte lagen, zwei schwarze Kunststoff-Anspitzer und das nahezu gleichmäßig zusammengerollte Gummiband, mit dem Wolf die Zigarrenkiste nach getaner Arbeit immer verschloss.
Paul ertappte sich manchmal dabei, wie er mitten im Gespräch mit einem Patienten seinem Gegenüber plötzlich nicht mehr zuhörte, sondern aus dem Fenster des Sprechzimmers hinaus sah in den Garten, hinunter zu seinem Freund, und ihn beim Nachdenken und Zeichnen beobachtete. Wolf: Das war für ihn seit der Schulzeit immer der Künstler gewesen, der Träumer, still, seelenvoll, gedankenreich, das Gegenteil von ihm. Irgendwie schien schon damals alles vorprogrammiert zu sein. Paul sollte Arzt werden, wie sein Vater. Niemals! hatte er gedacht, noch als er kurz vor dem Abitur stand. Niemals so werden wie sein Vater, niemals so ein bürgerliches, wohl geordnetes Leben führen. Frei sein: Das war die Idee von ihm und Wolf gewesen, unabhängig werden, Widerstand zeigen, das Risiko wagen. Sie wollten auf einem Schiff die Welt bereisen. Und niemals zurückkommen. Irgendwo in der Ferne an Land gehen und in das Fremde eintauchen. Eine Robinsonade schwebte ihnen vor. Aber alles kam ganz anders, in New York schon war Schluss mit dem Träumen gewesen.
Pauls Mutter hatte ihm damals eine Reise auf einem Container-Schiff geschenkt, das einem befreundeten Reeder gehörte. Wolf durfte er mitnehmen. Sie flogen mit kleinem Gepäck nach Italien. In Livorno gingen sie an Bord. Stolz nahmen sie vom Kapitän Identitätskarten als Schiffsjungen entgegen, die ihnen ermöglichten, in allen Häfen, wo der Frachter festmachte, an Land zu gehen. An Italiens Küste vorbei durchpflügte das Schiff das Mittelmeer, durchquerte die Straße von Gibraltar, bis es auf offener See war. Nordamerika war das Ziel, entlang der Ostküste führte die Route und wieder zurück. Die beiden Abiturienten erholten sich von ihrem Schulstress. Wolf zeichnete den Freund. Paul schrieb Tagebuch und Briefe an seine Freundin Sybille, die für ein Jahr als Au-pair-Mädchen nach Paris gegangen war. Sie schliefen bis mittags, sonnten sich, lasen, spielten Karten. Sie fraßen, soffen, schmiedeten Pläne, redeten bis in die tiefen Nächte, oben an Deck, auf klapprigen Liegestühlen, unter sternklarem Himmel, und das Meer rauscht ewig. Sie sahen Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge, erlebten Stürme, beobachteten Delphine, die links und rechts des Bugs das Schiff anscheinend spielerisch begleiteten, sahen Fliegenden Fische, entdeckten einen Wal. Das intensive Erleben von Natur berauscht die Sinne und verwandelt Menschen, betört ihre Gefühle. Ein geheimnisvoller Zauber lag auf einmal über der Freundschaft, und eines Nachts passierte etwas Seltsames. Sie hatten sich an billigem Rotwein betrunken, stundenlang diskutiert und waren dann erregt und müde in ihre Kabine gegangen. Als Paul sich auszog und nackt auf seine Pritsche warf, legte sich Wolf schweigend zu ihm. Er küsste ihn.
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