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Die Albertis: Roman (German Edition)

Die Albertis: Roman (German Edition)

Titel: Die Albertis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Pfannenschmidt
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antwortete nicht. Er starrte vor sich hin; stand unter Schock.
    «Hast du Schmerzen?» Keine Reaktion. Paul sprach laut und deutlich. «Pavel? Hörst du mich?»
    «Ja.»
    «Hast du Schmerzen?»
    «Nein.»
    «Kannst du dich bewegen?»
    Er wollte sich erheben, sank vornüber. Paul richtete ihn wieder auf.
    «Anuschka», seine Stimme war heiser, «ich muss zu Anuschka.»
    «Bleib ganz ruhig. Ich bin da. Ich bin ja da.» Er untersuchte ihn, so gut es ging. Offenbar war er körperlich in Ordnung.
    Wenige Minuten später, Paul hatte noch einmal telefoniert, kam der Krankenwagen, kurz darauf der Polizeiwagen, dann der Leichenwagen. Paul tat, was zu tun war, stellte noch am Unfallort die nötigen Papiere aus. Die Polizisten kannten ihn. Sie sicherten die Unfallstelle, machten ein Protokoll, unternahmen ihre Messungen, fotografierten, versuchten mit Pavel zu reden, vergeblich. Sie zogen seinen Führerschein ein und nahmen seinen Personalausweis mit. Schließlich kam ein Abschleppunternehmen, und die beiden Männer, die so schnell nichts umhaute, zogen ihre dicken Handschuhe an und taten, was sie immer taten, offenbar ungerührt. Am Ende, als auch der Leichenwagen gemächlich davonrollte und im Dunkeln verschwand, setzte Paul den noch immer zitternden Pavel auf den Beifahrersitz seines Autos und fuhr mit ihm nach Hause.
    Es war hell erleuchtet, als Paul das Gartentor öffnete und langsam auf sein Grundstück fuhr, es sah so friedlich aus, als würde es ein Ort der Ruhe und der Geborgenheit sein, zu dem niemals der Lärm des Alltags vordringen könnte, als wäre es die Kulisse eines romantischen Liebesfilms, als wäre es der einzige Platz der Welt, der, von wunderbaren Kräften geschützt, die andauernde Abwesenheit von Tränen und von Kummer gewährleisten würde.
    Paul stellte den Motor ab, stieg aus, ging um sein Auto herum, öffnete die Beifahrertür und half Pavel heraus. Er führte ihn zur Haustür, schloss auf und leitete ihn durch den Windfang, den Seitenflur und die Küche in seine Praxis. Wie überall machte er auch hier Licht, sagte Pavel, er solle sich auf die Behandlungsliege legen und untersuchte ihn dort gründlich, nachdem er ihm geholfen hatte, sich bis auf die Unterwäsche zu entkleiden. Pavel hatte nichts außer ein paar Schnittwunden, Prellungen und Kratzern, wahrscheinlich litt er auch unter einem Halswirbelschleudertrauma, konstatierte Paul. Er gab ihm eine Beruhigungsspritze.
    Plötzlich erschien Anne. Sie hatte mitbekommen, dass er zurückgekehrt war. Als sie Pavel auf der Liege sah, erschrak sie sich fürchterlich. Paul erzählte ihr, was passiert war. Sie war fassungslos. Wieder und wieder fragte sie nach, versuchte von Pavel etwas zu hören, doch er schwieg, und als Paul ihr bedeutete, dass er nicht reden könne, brachten sie ihren Sohn gemeinsam zu Bett.
    Zum Glück blieb das Telefon ruhig. Erst jetzt spürte Paul, wie fertig er war. Er machte eine Flasche Rotwein auf. Im Esszimmer setzten sie sich an einen Tisch und tranken still ein Glas. Beide wussten nicht, was sie sagen sollten. Jeder ging seinen Gedanken nach.
    Paul dachte: Was für ein fürchterliches Unglück! Wie konnte das passieren? Es ist klar, dass der Unfall Pavels Schuld ist, aber warum fuhr er auf der linken Fahrbahn? Das ist ja fast wie ein Duell, als hätten die beiden sich an dieser Stelle verabredet, um ihre Kräfte zu messen und aufeinander los zu rasen. Welche Macht steht hinter diesem sinnlosen Plan? Und Pavel. Wie kann er leben mit dieser Schuld, gerade achtzehn und dann das. Und Anuschka, mein Kind, meine geliebte Tochter, wie soll ich es ihr nur sagen? Wie kann man so etwas aushalten? Und Anne, wie kann sie das ertragen? Ich muss ihr beistehen, das ist jetzt meine Aufgabe.
    Kurz sah er zu ihr hinüber und goss sich ein zweites Glas ein. Sie starrte auf die Tischplatte.
    Anne dachte: Es ist meine Schuld, alles ist meine Schuld. Warum habe ich darauf gedrängt, ihm einen Wagen zu schenken? Weil ich ein schlechtes Gewissen hatte. Weil ich wollte, dass er mich wieder lieb hat. Und das ist jetzt die Strafe. Das ist die Strafe dafür, dass ich meine Familie auseinander gerissen, weil ich nur meinen egoistischen Gefühlen nachgegeben, weil ich meinen Mann verlassen und den Söhnen den Vater genommen habe und weil ich es war, die unbedingt hierher ziehen wollte, gegen jede Vernunft und gegen jeden Widerstand. Ach, hätte ich es doch meinem Sohn ersparen können, der von jeher schon immer geglaubt hat, besonders viel Pech im Leben zu

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