Die Albertis: Roman (German Edition)
haben, und den ich gerade deswegen so liebe, über alles. Mein Pavel, mein Pavel, mein Pavel. Gott, hilf mir.
Irgendwann fing Anne an zu weinen. Paul stand sofort auf und kam zu ihr. Er kniete sich vor ihren Stuhl, drehte ihr Gesicht zu sich mit seinen starken, warmen Händen und küsste sie, immer und immer wieder.
«Ich kann nicht Paul, ich kann nicht!», sagte sie unter Tränen und machte sich los. Sie stand auf.
Er wollte ihre Hand nehmen, doch sie wehrte sich.
«Verzeih mir ...»
«Was machst du?»
«Ich kann nicht.»
Sie schob die Schiebetür auf, verließ das Esszimmer und ging über die Treppe nach oben, mit schweren, langsamen Schritten. Sie blieb vor Pavels Zimmertür stehen, atmete tief durch und trat ein. Er lag in seinem Bett, hatte die Decke bis unter das Kinn hoch gezogen, schlief nicht, starrte zur Decke. Die Lampe auf seinem Schreibtisch brannte. Das sonst so gemütliche Licht warf harte Schatten auf die Wand.
Anne setzte sich auf Pavels Bett. Sie sahen sich an. Nichts, kein Wort wurde gesprochen, und doch sagten sie sich alles durch die Augen und über ihre Blicke. Es waren Blicke von Liebe, Vertrauen und Nähe, in Pavels Augen lag Furcht und Verzweiflung, in Annes Augen die Kraft und die Wärme, wie sie nur eine Mutter ausstrahlen kann und die jeden Menschen für das Leben wappnet und stärkt. Eine besondere Art der Zuwendung, deren man sich erst wirklich bewusst wird, wenn man sie nicht mehr empfangen kann.
Er kam langsam hoch, er zog seine Arme unter der Bettdecke hervor, schlang sie um den Hals von Anne.
«Mama ... Mama ...»
Lange Zeit umarmten sie sich nur, hielten sich einfach fest. Dann sank er in die Kissen zurück.
«Soll ich dich allein lassen?»
«Bleib bei mir, Mama.» Pavel rollte sich auf die Seite. Anne schlug die Decke zurück und legte sich zu ihm, schmiegte sich ganz eng an ihren Sohn, hielt ihn fest und erinnerte sich daran, wie sie das früher oft getan hatte, wenn er krank gewesen war oder Kindersorgen ihn plagten.
Irgendwann mussten sie dann eingeschlafen sein. Anne wurde wach, in den frühen Stunden des nächsten Morgens, durch einen Aufschrei. Es war Anuschka.
Leise stand sie auf. Pavel schlief noch. Er war erst in den Morgenstunden zur Ruhe gekommen. Sie sah ihn an, und es rührte sie, ihn im verwühlten Bett zu sehen, noch in seiner Kleidung vom Vorabend, zusammengekauert wie ein kleiner Junge, gleichmäßig atmend, friedlich. Anne strich sich die Haare glatt und wollte hinausgehen. Da wurde die Tür aufgerissen. Anuschka stürzte herein, nur mit ihrem T-Shirt bekleidet, das sie nachts im Sommer trug. Paul folgte ihr und hielt sie am Arm fest, mit hartem Griff, während sie versuchte sich zu befreien und dabei schrie: «Mörder! Du Mörder! Wach auf!»
«Anuschka!», rief Anne erschrocken aus.
Sie nahm keine Notiz von ihr: «Lass mich los ... lass mich los ...»
Mit einem Ruck kam Pavel hoch, sprang wie in Panik aus dem Bett. Er schien nicht bei Sinnen zu sein, wollte auf Anuschka losstürzen, verhindern, dass sie weiter schrie. Paul hatte seine Tochter von hinten gepackt, hielt ihr die Arme auf dem Rücken. Sie zerrte, sie wand sich, sie ruckte. Doch es gelang ihr nicht, sich loszumachen. Anne hielt ihren Sohn am Kragen seines Hemdes fest, mit langem Arm, wie an einer Leine. Sie brauchte all ihre Kraft dazu, ihn zurückzuhalten. Nur wenige Schritte standen die beiden voreinander entfernt. Schreiend. Tobend.
«Mörder, Mörder, Mörder ...»
«Hör auf! Es war ein Unfall! Hör auf! Aufhören!» Er hielt sich die Ohren zu.
Sie wollte auf ihn einschlagen, doch der Abstand zwischen ihnen war zu groß. Sie ruderte hilflos mit den Armen in der Luft herum. Wie zwei Marionetten, die von ihren Eltern an unsichtbaren Fäden gehalten wurden, bewegten sie sich, strampelten, zogen, boxten, traten. Dann verstummte Anuschka mit einem Mal, sank erschöpft zu Boden. Nun ging auch Pavel in die Knie. Anne ließ ihn los. Er bewegte sich nicht, sein ganzer Körper bebte.
«Ich ...», hob er an, doch Anne ließ ihn nicht ausreden. «Bring deine Tochter hier raus!», verlangte sie scharf, und ihre Augen funkelten Paul an.
«Komm, Anuschka ...» Sanft zog Paul sie hoch, stellte sie wieder auf die Beine, legte den Arm um ihre Schulter und führte sie hinaus.
Pavel verharrte in seiner Position: «Ich habe es nicht gewollt, Mama ... nicht gewollt.»
Es gibt Momente im Leben, wo man sprachlos bleibt, weil man spürt und weiß, dass Worte nichts mehr ausrichten können. Dann
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