Die Albertis: Roman (German Edition)
die vergangene Nacht war kurz gewesen, er wollte schnell nach Hause und schlafen. Einen halben Kilometer weiter bremste er, setzte den Blinker und bog rechts ab. Er entschied sich für eine Abkürzung, die durch Wiesen führte, und einen Wald, über Bahngleise und durch ein Dorf, vom dem aus es nur noch zwei Kilometer bis zu Pauls Haus waren. Die Straßen wurden schlechter und schmaler, die Kurven schärfer, an manchen Stellen der Strecke gab es nicht einmal mehr Straßenlaternen, hier ist der Hund begraben, dachte Pavel und gab noch mehr Stoff, mal sehen, wie weit ich den Tacho hoch treiben kann, 120 ... 130 ... 140 . . . «Sex bomb ... sex bomb. I'm your sex bomb ...»
Kurz hinter dem Dorf, in einer unübersichtlichen Linkskurve, schnitt er die Fahrbahn, fuhr auf der linken Straßenseite. Da passierte es. Er sah das Motorrad, das ihm entgegenkam, zu spät. Mit hoher Geschwindigkeit raste es auf ihn zu. Er konnte nicht mehr ausweichen. Der Golf geriet ins Schleudern, als er in die Bremsen trat. In Sekundenschnelle tobte alles durcheinander. Blech, Gummi, Strom, Benzin, Quietschen, Krachen, Schreien. Ahnungslosigkeit, Angst, Panik, Schmerz. Alles wirbelte wie von fremder Hand gelenkt hoch, als es aufeinander prallte, schlug, krachte. Flog durch die Luft. Stürzte zu Boden. Drehte sich auf der Straße und im Kopf. Danach war es einen Moment totenstill, und von irgendwoher wehte ein kalter Hauch in Pavels Genick und erfasste seinen Körper. Er sah sich selbst hinter dem Steuer des Autos, den Kopf auf dem Lenkrad, das seine Hände umklammerten, als gäbe es ihm Halt, sah sich zitternd und im Gesicht blutend aussteigen, sah sich hinauslaufen und hörte sich brüllen: «Hilfe! Hilfe! Hilfe!» Doch er bekam keine Antwort. Es war vollständig ruhig. Seltsam gekrümmt und mit sich drehenden Rädern lag das Motorrad vor ihm. Von seinem Fahrer gab es keine Spur. Ein Scheinwerfer des Autos war zersplittert und erloschen, der andere warf kaltes Licht auf den Asphalt. In Panik stand Pavel da, drehte sich zur einen und zur anderen Seite, nach vorne und nach hinten, und bemerkte dann einen dunklen Schatten auf der Wiese rechts von sich. Er rannte und schrie «Hallo!» in die Stille, immer und immer wieder, und entdeckte dann das Entsetzliche, keine fünfzig Meter entfernt von der Straße: Mit nach hinten gedrehten Augen, ohne sich zu rühren und ohne einen Laut von sich zu geben, lag da, verdreht, einer Puppe gleich, der Motorradfahrer. Es war Stivi.
KAPITEL 13
Tod und Teufel
Das Telefon klingelte nachts um zehn nach elf. Paul war auf dem Sofa in Annes Arm eingeschlafen. Er atmete gleichmäßig und tief. Die ganze Zeit über hatte sich Anne nicht getraut, weiter in ihrer Zeitschrift zu blättern. Sie wollte ihn nicht wecken. Doch jetzt drückte sie ihn vorsichtig zur Seite, bettete seinen Kopf auf eines der Kissen, stand auf und ging leise zu der Kommode, auf der das Praxistelefon lag.
Sie drückte den Knopf und meldete sich: «Praxis Dr. Ross, Alberti, guten Abend.»
Es war ein Handy-Anruf eines ihr fremden Mannes. Er berichtete davon, dass in unmittelbarer Nähe soeben ein Autounfall passiert sei. Der Mann erklärte weiter, er kenne Dr. Ross und wisse, dass er Dienst habe. Ein junger Mann, schwer verletzt, läge auf der Wiese und ein anderer, der offenbar mit seinem Auto den Unfall verursacht habe, säße daneben. Wahrscheinlich brauche man auch einen Krankenwagen, und die Polizei müsse informiert werden, aber er wisse nicht, was er zuerst tun solle, er habe bereits versucht erste Hilfe zu leisten, aber die komme wohl zu spät.
Anne ließ sich den Unfallort beschreiben, notierte alles, bedankte sich und weckte Paul. Zehn Minuten später war er dort. Noch auf dem Weg dahin hatte er alles Nötige veranlasst. Als er ausstieg, den Golf und das Motorrad sah, wusste er sofort, was passiert war. Paul hatte im Laufe seines Lebens als Arzt schon viel Leid gesehen, und manchmal, wie beim Selbstmord von Bauer Merk, hatte selbst ihn das Erlebte erschüttert, ohne dass er es jedoch zeigte. Doch jetzt schlug sein Herz bis zum Hals, als er Pavel im Gras kauern sah, kreidebleich, kalt, am ganzen Körper zitternd, und neben ihm Stivi. Anuschkas Freund war tot. Es brauchte keiner großen Untersuchung, um das festzustellen. Er schloss dem Toten mit der flachen Hand die Augen. Dann zog er seine Kordjacke aus, legte sie Pavel über die Schultern, setzte sich zu ihm ins Gras und nahm seine Hand.
«Pavel», flüsterte er. «Junge ...»
Pavel
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