Die Albertis: Roman (German Edition)
Stoppelfelder in trockenem Goldton kündeten vom Ende des Sommers und dem nahenden Herbst. Der Zaun war überwuchert von Himbeer- und Brombeersträuchern voller hellroter, noch grüner und fast blauschwarzer Beeren, die bald reif sein würden. Als Kind war Anne zu dieser Jahreszeit immer mit ihrer Schwester Ingrid und Freunden auf Fahrrädern aufs Land gefahren, mit Drahtkörben auf den Gepäckträgern, die mit Zeitungspapier ausgelegt waren, und hatte Früchte gesammelt. Sie erinnerte sich daran, wie sie mit zerkratzten Händen und Beinen abends nach Hause zurückgekehrt war, den Mund verschmiert vom süßen Saft der Beeren, und ihre Ernte auf dem Küchentisch ausgebreitet hatte. Die größte Freude war für sie das Lob der Mutter gewesen, und das gemeinsame Einkochen zu Gelees und Marmelade am darauf folgenden Tag. Noch heute konnte man im Keller in ihrem Elternhaus uralte, staubige Gläser aus jener Zeit finden. Ihre Mutter hatte immer zu viel von allem bevorratet, denn sie war eine große Bewahrerin und Verwahrerin. Anne und ihre ältere Schwester Ingrid hatten sich jahrelang darüber lustig gemacht, aber wenn Anne heute genau hinsah, musste sie zugeben, dass sich vieles von dem, was man bei seinen Eltern ablehnte und verurteilte, später in das eigene Leben einschlich, wie ein Virus. Sie erschrak oft darüber, wie ähnlich sie ihrer Mutter geworden war.
Plötzlich blieb Paul stehen. Wortlos zeigte er mit seinem Wanderstock in Richtung der Böschung. Anne stellte sich neben ihn und konnte zunächst nicht erkennen, was er dort entdeckt hatte. Aber dann sah sie es. Ein Reh hatte sich mit seinen Hinterläufen im Draht verfangen. Wie aufgeknüpft hing es regungslos ausgestreckt die Böschung herunter.
Erschrocken legte Anne ihre Hand auf ihren Magen: «Um Gottes willen!»
«Warte!», erklärte Paul und ging näher heran. «Leise.»
Sie folgte ihm.
Das Reh drehte sein Augäpfel zu ihnen hin.
Anne flüsterte. «Es lebt noch.»
Paul nickte. «Wir müssen es befreien.» Er legte seinen Stock zu Boden, zog sein Hemd aus und gab es ihr. Dann ging er vorsichtig zu dem Tier und beugte sich langsam zu ihm herunter. In Panik begann es zu zucken, die Schlinge zog sich enger um seine Läufe. Sie waren blutig.
«O nein!» Anne drehte den Kopf weg.
Jetzt zog Paul auch sein Unterhemd aus und zerriss es in zwei Stücke. Den Stoff wickelte er sich wie Bandagen um seine Hände. «Du musst mir helfen, Anne.» Er übersprang den Graben, kniete sich auf der anderen Seite ins Gestrüpp. «Komm her, bleib auf deiner Seite, du musst es festhalten.»
«Festhalten?»
Er guckte sie nicht an, sondern besah sich den Draht. «Festhalten, ja.»
Sie kam dicht heran und kniete sich jetzt ebenfalls hin. Anne wunderte sich, dass das Reh sich nicht rührte, sich nicht wehrte, sondern es ruhig geschehen ließ, wie sie es festhielt, während Paul sehr vorsichtig und schnell den Draht mit seinen scharfen Spitzen aus dem Fell und Fleisch löste. Anne ließ das Tier sofort wieder los, als sie sah, dass Paul es aus seiner Falle erlöst hatte. Es rutschte wie tot in den Graben und blieb dort liegen. Paul sprang zu Anne herüber, sie traten einige Schritte zurück und warteten, was passieren würde. Nach einer halben Minute etwa erhob sich das Reh aus seinem Schockzustand, machte einen Satz auf den Weg und blieb dort stehen und sah sich um, so als wäre es allein auf weiter Flur. Dann ging es gemächlich ein paar Schritte, sprang schließlich über den Bach und verschwand im Wald.
Anne und Paul sahen sich an. Er strahlte und auch sie musste lächeln.
«Unsere gute Tat für heute», sagte sie.
Er kam auf den Waldweg zurück und wickelte sich den Stoff ab.
«Jeden Tag eine gute Tat», ergänzte sie, «damit kommt man gut durchs Leben.» Er reagierte nicht. «Fähnchen Fieselschweif ...»
«Fähnchen: was?», fragte er, beugte sich hinunter zum Bach und wusch die Hände und Unterarme.
«Na ja, klar, kein Wunder, dass du das nicht kennst ... deine Töchter lesen ja sicher keine Mickymaushefte ...» Anne bemerkte, wie die Schweißtropfen über seinen Rücken liefen. Er kam wieder hoch. Jetzt spülte sie sich sorgfältig ihre Hände. Das Wasser war klar und kühl. Paul setzte sich ins Gras. Sie setzte sich dicht neben ihn. Ihre Waden berührten sich. Sie spürte seinen kräftigen Pulsschlag. Sie sahen sich an. Ihr kam es vor wie eine Ewigkeit. Sie hielt seinem Blick stand und er dem ihren. Weinte er?
Sie war irritiert: «Weinst du?»
Anstatt zu
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