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Die Albertis: Roman (German Edition)

Die Albertis: Roman (German Edition)

Titel: Die Albertis: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Pfannenschmidt
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Hand. Die beiden verschwanden.
    Wenige Schritte entfernt vom Haus führte parallel zum Grundstück ein Weg hinunter in die sumpfige Senke, die auch Pauls Anwesen am Ende des Gartens begrenzte. Ein Bach schlängelte sich durch dieses Paradies voller Pompesel, Schilfgras und Schwertlilien, umgestürzten Bäumen und Weidensträuchern. Rote Primeln blühten hier und leuchtend gelbe Sumpfdotterblumen, die weißen Dolden des Wasserschierling ragten hoch auf, Knöterich wucherte, und die Kelche der Zaunwinden, die sich um Äste und Stämme rankten, zitterten im Nachmittagswind. Libellen standen in der Luft und Schwärme winziger Mücken, die in der Sonne aussahen wie Goldstaub, der, scheinbar geheimen Befehlen folgend, sekundenkurz aufstieg, sich flirrend herabsenkte, um sich sodann gleich wieder zu erheben. Der Bach plätscherte, gurgelte, schmatzte. Ein Entenpaar stand im Wasser, paddelte gegen die Strömung, ließ sich treiben.
    Anne und Paul überquerten eine Holzbrücke. Der Weg führte eine Böschung hinauf, kreuzte einen Pfad und mündete im Wald. Anne fühlte sich auf einmal glücklich. Der Geruch nach Tannen und Erde, die kühle Luft und das weiche, milde, gedämpfte Licht hüllte sie ein. Sie hätte die Arme hochreißen und losschreien können. Am liebsten wäre sie Paul, der schweigend neben ihr ging, um den Hals gefallen. ‹Er tut mir gut›, dachte sie, ‹Paul tut mir gut.› Seltsam, noch nie war ihr das so klar gewesen wie in diesem Moment. Wie gerne hätte sie ihm das gesagt, doch als sie ihn kurz von der Seite ansah, bemerkte sie, dass er in Gedanken versunken war. Auf seiner Stirn, zwischen den Augenbrauen hatte sich eine tiefe, kurze Falte gebildet. Das war immer so bei ihm, wenn er nachdachte, wenn er sich ärgerte, wenn er Sorgen hatte. Sie kannte ihn fast so gut wie Wolf, und sie war stolz darauf und musste bei dem Gedanken lächeln.
    «Erzähl», sagte sie.
    Er nahm sich einen Ast, der am Wegesrand lag, und brach ihn sich mit dem Fuß und der linken Hand in Spazierstocklänge. Das war so eine Angewohnheit von ihm, noch aus Kindertagen. Nie ging er ohne einen Stock spazieren. Er pflegte ihn in den Boden zu drücken bei jedem Schritt, ihn herumwirbeln zu lassen, in einer Mischung aus Fred Astaire und altem Mann. Es sah elegant aus und lustig. Manchmal schlug er sich damit den Weg durch Gestrüpp frei, manchmal zeigte er etwas damit, wie ein Oberlehrer, der seinen Schülern die Landschaft und das Leben erklärte. Paul war Linkshänder. Anna hatte ein Faible für Linkshänder. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass solche Menschen zwar kein gutes Gedächtnis hatten, jedoch besonders kreativ und offen und lebensbejahend waren, und dass dieser vermeintliche Makel wie eine Auszeichnung war, ein Zeichen der Natur, das besagte: Du bist etwas Besonderes.
    Paul blieb stehen und prökelte ein Stück der Rinde ab, um seinen Stock besser anfassen zu könne. Sie beobachtete ihn. Er hatte schöne Hände, große Hände. Schaufelhände sagte sie dazu. Der Mann mit den Schaufelhänden nannte sie ihn manchmal, und wenn sie das sagte, schwang Zärtlichkeit darin und Freundschaft.
    «Was soll ich erzählen?» Er ging weiter.
    «Wie es dir geht.»
    «Gut.«
    «Aber irgendwas ist doch.»
    «Blödsinn.»
    «Was ist denn mit deinen Patienten, bei denen du warst vorhin?»
    «Schon mal was von ärztlicher Schweigepflicht gehört?», erwiderte er barsch.
    «Na sonst bist du doch auch nicht so ...» Sie brach ab. Sie wusste, dass sie einen Hang dazu hatte, Menschen, die ihr etwas bedeuteten, auszufragen. Dieses Insistieren, Nicht-locker-Lassen, Nachbohren hatte sie bei ihren Söhnen trainiert und auf diese Weise immer wieder etwas erfahren, das Eltern sonst nicht von ihren Kindern zu hören bekamen. Liebeskummer, Schulprobleme, Streit mit Freunden, Geldsorgen. Sie nervte ihre Familie damit. Doch es war keine Neugierde, sondern das Bedürfnis, Nähe herzustellen und Hilfsbereitschaft zu zeigen. Am Ende kriegte sie immer heraus, was sie herauskriegen wollte. Und das stützte ihre These, dass eigentlich jeder Mensch den Wunsch hegte, sich mitteilen und offenbaren zu können.
    Paul ging vor ihr, sie folgte ihm langsam. Sie kamen an eine Waldkreuzung und Paul ging nach rechts weiter. Neben dem Weg plätscherte nun auf der einen Seite wieder der Bach. Auf der anderen verlief ein Graben. Oberhalb davon war eine Böschung, die durch einen rostigen Zaun begrenzt war, und dahinter lagen Kornfelder. Sie waren bereits abgemäht, und die

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