Die Albertis: Roman (German Edition)
morgens bis abends, und zwar täglich mit Männern herumstreiten, die alle weniger können als ich und mehr verdienen und? Merkt man mir das an? Nein. Immer schön freundlich sein und seinen Job machen, und vor allem sich unterordnen gegenüber denen, die einen zahlen. Andernfalls heißt es: Adieu! Verstehen Sie? Adieu! Sie sollten dankbar sein, dass sie hier arbeiten: dürfen !»
Kurzerhand schnappte sich Anne ihre Freundin und drängelte sie in den kleinen Zwischenflur.
«Man könnte meinen, du bist betrunken!», zischte Anne. «Das geht wirklich zu weit. Selbst wenn du Recht hast!»
«Weil ich den Mund aufmache, im Gegensatz zu dir?»
«Dadurch wird's auch nicht besser!»
Sie verließen das Haus und gingen spazieren, auf demselben Weg, den Anne mit Paul seit damals immer ging, und Anne zeigte Ebba die Stelle, wo sie das Reh befreit und wo sie und Paul sich zum ersten Mal geliebt hatten. Sie machten einen Zwei-Stunden-Marsch und redeten wie früher über alles und nichts. Dabei hatte Anne das Gefühl, dass vor allem sie sprach und dass Ebba irgendetwas bedrückte, aber sie rückte mit der Sprache nicht heraus.
Besonders beim Abendessen, als sich die ganze Familie bis auf Anuschka und Pavel – um den Tisch versammelte. Frau Merk war verschwunden. Anne vermutete, dass sie mit ihrem Fahrrad auf den Friedhof gefahren war, sie tat das mehrfach in der Woche, besonders aber wenn es Streit gegeben hatte. Ebba hatte Anne, nachdem die Lasagne in den Ofen geschoben war, dabei geholfen, den Tisch zu decken. Sie entschieden sich für das geblümte Geschirr der Albertis, das Anne Küchengeschirr nannte und das sie meistens benutzten, nachdem Anne das schlichte weiße von Sybille kurzerhand in eine leere Umzugskiste gepackt und in den Keller gestellt hatte. Bauernbrot, Butter, ein Marmorbrett mit verschiedenen Käsesorten, die Hälfte des Spargels, den Anne kurz gekocht und mit Salz und Pfeffer, Essig und Öl zu einem Salat zubereitet hatte, eine Flasche gut gekühlter italienischer Weißwein, Saft für die Kinder, die dampfende Lasagne in einer Steingutform, dicke Stoffservietten, brennende Kerzen im Silberleuchter: Im Esszimmer herrschte eine gemütliche, heimelige Atmosphäre, alle aßen mit Genuss und redeten und lachten durcheinander, nur Ebba, die sonst um diese Zeit entweder ein Geschäftsessen absolvieren musste oder vor der geöffneten Kühlschranktür stand und im Stehen irgendetwas Kaltes herunterschlang, das ihren Heißhunger stillte, schien keine Freude an diesem Teil des Familienlebens zu haben, war ungewöhnlich ruhig, piekte gedankenverloren ein paar Happse von der Lasagne und versenkte ihren Blick im Weinglas. Ab und zu bemühte sich Anne, ihre Freundin in das Gespräch mit einzubeziehen, und Ebba erzählte ein wenig von ihrer Arbeit, aber meistens blieb es beim Zuhören und Schweigen. Paul erzählte über Patienten und über Krankheiten. Das war eine Angewohnheit von ihm, die Anne anfangs irritiert und abgestoßen hatte, besonders wenn er nicht davor zurückschreckte, selbst düstere Details auszubreiten. Sie hatte zu Hause gelernt: «Keine Biologie bei Tisch!» Aber offenbar galten in Arzthaushalten andere Gesetze. Und irgendwann gewöhnte sie sich daran. Ja, sie entwickelte sogar Interesse, erwarb einen gewissen Sachverstand, nur durchs Zuhören, stellte Fragen und nahm auf diese Weise auch an seinem Arbeitsleben teil. Ihr war klar, dass solche Fachsimpelei, wie sie es nannte, dazu diente, seine Seele zu entlasten. Denn selbst wenn der tägliche Umgang mit Krankheit und Tod einen Menschen abstumpfen ließ, so blieb doch ein Rest von Mitleid und Besorgnis, der kräftezehrend und bedrückend war.
Luis wiederum gab den Klatsch aus der Schule zum Besten. Welche Lehrerin mit welchem Lehrer angeblich ein Verhältnis hatte, welche Eltern sich gerade scheiden ließen, welche Familien Schulden drückten und welchem Schüler ein Rausschmiss von der Schule drohte. Laura unterstützte ihn nach Kräften, aber sie kannte nur ein Bruchteil von den Neuigkeiten, obwohl sie schon viel länger auf diese Schule ging und eigentlich alle hätte viel besser kennen müssen als Luis. Sein Talent, etwas herauszukriegen, was andere lieber im Verborgenen gelassen hätten, war einmal mehr unverkennbar. «Er hat Augen wie ein Luchs», erklärte Anne. «Und Ohren wie RIAS-Schüsseln! Er wird eines Tages Klatschkolumnist, jede Wette.»
«Ich werde Arzt wie Paul!», entgegnete Luis. «Da kriegt man auch 'ne Menge mit. Und außerdem
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