Die Albertis: Roman (German Edition)
Moment schweigen. Es war wie damals, als ihre Eltern zu Besuch in Hamburg gewesen waren. Sie hatte Abendbrot zubereitet, und ihr Vater nahm sich eine Tomate, drehte sie hin und her und sagte:
«Die Tomaten hast du nicht gewaschen?»
Sie hätte einfach nur antworten sollen: «Doch. Sie sind gewaschen.»
Stattdessen aber – weil sie sich über diese Vermutung ihres Vaters ärgerte und weil sie den unausgesprochenen Subtext hörte – entgegnete sie, und zwar innerlich schon auf hundertachtzig: «Wieso soll ich die Tomaten nicht gewaschen haben?»
«Ich frage nur, ob sie gewaschen sind!»
«Wieso denkst du, ich würde Tomaten nicht waschen?»
«Musst du auf jede Frage mit einer Gegenfrage antworten?»
«Du machst es doch genauso!»
«Ich will nur wissen, ob sie gewaschen sind, ich meine, wenn sie nicht gewaschen wären, würde ich jetzt aufstehen und in die Küche gehen und sie waschen.»
«Allein dass du denkst, ich würde euch Tomaten vorsetzen, die nicht gewaschen sind, zeigt doch, wie du über mich denkst: Ich sei eine schlechte Hausfrau, eine viel schlechtere als Mutti, an die ja sowieso niemand heranreicht, und du willst mir mit dieser Frage sagen: Haben wir dich nicht so ordentlich erzogen, dass man seine Tomaten wäscht? Weißt du nicht, dass die Haut voller Pestizide und Keime steckt, die uns gefährden? Bist du eine Schlampe? Du willst mich mit dieser Frage mal wieder klein machen!»
Sie waren von der Tomate mühelos zur Frage des menschlichen Daseins gelangt, hatten mir nichts, dir nichts Gott und die Welt am Wickel und am meisten sich selbst, und der Abend endete in einem Riesenkrach, bei dem auch ihre Mutter und Wolf nichts mehr ausrichten konnten. Ihr Vater war beleidigt zu Bett gegangen und ließ sie als Schuldige zurück. Das war das Prinzip, in das sie sich perfekt einfügte, bei dem sie sich immer dieselbe Rolle zuweisen ließ und sie annahm wie eine zweite Haut. Es war immer ihre Schuld.
«Sie tun ja auch alles dafür, dass man sie so behandelt, Frau Merk», sagte sie und spürte, wie groß ihre Wut war.
«Ich mache hier nur meine Arbeit. Und wenn Sie gestatten», sie schob sich an Anne vorbei, um das Geschirr in den Schrank zu räumen, «würde ich das jetzt auch gerne weiter tun.» Und dann fügte sie hinzu: «Mit Ihnen kann man ja sowieso nicht reden.»
«Wieso kann man mit mir nicht reden? Wieso? Reden Sie doch einfach. Sagen Sie doch endlich mal, was Ihnen nicht passt.»
Ein Wort gab das andere. Es war schrecklich. Es schien ausweglos. Frau Merk war eine Giftspritze. Ebba hatte Recht: Sie müsste sie mal richtig auf den Pott setzen oder rausschmeißen, aber dazu fehlte ihr die Traute. Als sie kurz darauf ins Schlafzimmer kam, lag Paul bereits im Bett und las ein Buch. Von der Auseinandersetzung hatte er nichts mitbekommen, denn als es lauter wurde, hatte Anne schnell die Küchentür zugemacht.
Angezogen kroch sie zu ihm, er legte das Buch zur Seite, und sie kuschelte sich in seinen Arm. Durch die weit geöffnete Balkontür zog kühle Nachtluft herein. Anne bekam eine Gänsehaut. Paul nahm seine Decke und zog sie ihr über ihren Körper.
«Nett, deine Freundin!», sagte er. «Nett, aber ein bisschen keck.»
«Keck? Was ist das für 'n Wort?»
Er antwortete nicht, sondern zerrte die Bettdecke höher, über beider Köpfe hinweg, sie lagen Gesicht an Gesicht im Dunkeln und sahen sich an. Er küsste sie zärtlich. Anne musste lachen.
«Das kitzelt.»
«Das wird gleich noch mehr kitzeln.» Er begann sie zu streicheln und zu entkleiden. «Ich will dich, Anne.» Er warf die Decke zurück, kniete sich hin und half ihr beim Ausziehen.
«Langsam haben wir ein richtiges Familienleben, was?»
Ja», antwortete sie und machte ihren BH selbst auf. «Langsam.»
Paul schmiss ihren BH weg und liebkoste ihre Brüste.
«Aber das Licht bleibt an!», sagte Anne.
KAPITEL 11
Glücksbringer
Aufmachen!», brüllte ein Mann. Stimmengewirr. Nacht. Es klingelte Sturm. Jemand bollerte mit den Fäusten gegen die Haustür. Anne glaubte, sie würde träumen. Doch jetzt, als sie die Augen öffnete und die Nachttischlampe anknipste und merkte, dass das zerwühlte Bett neben ihr leer war, kam sie ruckartig hoch und wusste sofort: Etwas ist passiert. Etwas Schlimmes. Die Schlafzimmertür war weit offen. Der Flur hell erleuchtet. Unten hörte sie Paul. Er sprach mit einem Mann, mit einem zweiten, es waren mehrere. Anne sprang barfuß aus dem Bett, nahm ihren Morgenmantel vom Sessel vor dem Fenster und
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