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Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
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das Frische Haff floss, das eine schmale Landzunge vom Baltischen Meer trennte. Und obwohl der Duft von Fisch und Tang zu ihr herüberzog, meinte sie, dass die Luft an diesem Ort frischer war, klarer als im Innern der Stadt, deren vielfältige Gerüche ihr zuweilen den Atem nahmen.
    Helene sog die Luft ein, glaubte, das Salz des Meeres zu schmecken, einen Hauch nur, aber dennoch präsent. Nur einmal war sie mit ihrem Vater an der See gewesen, in der kleinen Hafenstadt Pillau, sie hatte hinaus auf die blauen Wogen gesehen, dem singenden Wind gelauscht und das erste Mal in ihrem Leben gespürt, dass die Welt um so vieles größer war als das, was sie täglich erlebte. Und sie hatte sich geschworen, eines Tages zu reisen. Die Stadt zu verlassen, jene Welt zu entdecken, die sie bislang nur aus Büchern kannte.
    Vorbei. Das alles sollte nun vorbei sein. Helene seufzte. In einem Anflug von Trotz spuckte sie in das aufgewühlte Wasser. Sie verfolgte das wippende Schaumkrönchen bis zu einer ankernden Barke, wo es aus ihrem Blick verschwand.
    Natürlich würden sie sich Sorgen machen, nach ihr suchen. Aber das geschah ihnen recht. Sollten sie sich die Augen ausweinen, sich ausmalen, was alles hätte geschehen können. Wenn Mutter noch leben |39| würde, wäre es gewiss niemals dazu gekommen, dachte sie und verzog den Mund.
    In ihrer Erinnerung war die Mutter wunderschön, mit lachenden Augen und einem Blick voll Wärme und Güte. Eine sanftmütige Frau, die sie bedingungslos liebte und die Sehnsucht verstand, die Helene immer wieder antrieb, hinauszulaufen und den Schiffen zuzusehen, die aus den fernen Ländern kamen und Mandeln und Ingwer brachten, Moschus und Pfeffer, Zucker, Safran und italienischen Samt.
    Mechthild hingegen hatte sie nie verstanden, es noch nicht einmal versucht. Die beiden Kinder ihrer Vorgängerin waren ihr im Weg gewesen, als sie den verwitweten Friedrich Steinhäuser, Apotheker von Königsberg, ehelichte und ihm zwei eigene Kinder gebar. Und sie hatte alles Erdenkliche getan, um Helene und ihrem Bruder das Leben zu verleiden.
    Ein paar Möwen schossen kreischend über das Wasser, verfolgten ein einlaufendes Fischerboot. Die Abendsonne stand tief und ließ ihre Strahlen auf der Wasseroberfläche glitzern. Helene kniff geblendet die Augen zusammen und zog die breite Krempe des Hutes weiter ins Gesicht.
    Seit Albert im vergangenen Jahr nach Jena gegangen war, war alles noch schlimmer geworden. Und obwohl Helene seine Beweggründe verstand, fühlte sie sich von ihrem älteren Bruder im Stich gelassen. Wäre er hiergeblieben, hätte er gewiss ein gutes Wort für sie eingelegt, sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Im nächsten Sommer wollte er als promovierter Arzt nach Königsberg zurückkehren, dann aber wäre es bereits zu spät. So konnte sie nur hoffen, dass ihr Vater sich beim Aushandeln des Ehevertrags ungeschickt anstellte.
    Helene beugte sich nach vorn, sah auf das bewegte Wasser. Das Spiegelbild eines hübschen hochgewachsenen Mädchens mit ausgeprägten Wangenknochen kräuselte sich im Wind. Ein Mädchen auf dem Weg zur Frau. Helene unterdrückte das Verlangen, wieder hinabzuspucken.
    Vater wusste, dass sie gern am Pier beim Hundegatt saß. Doch |40| der Abend nahte, ohne dass sie ihn ihren Namen rufen hörte. Die Barke zerrte an der Trosse, knarrte im auffrischenden Wind. Fröstelnd zog Helene die Beine an, umschlang sie mit ihren Armen. In der Apotheke war viel zu tun, es hatte mehrfach Scharlachfälle gegeben, außerdem war eine große Bestellung Marzipankonfekt für eine Festgesellschaft eingegangen. Vater würde ihre helfende Hand vermissen, aber wäre seine Sorge über ihr Fortbleiben groß genug, das Geschäft im Stich zu lassen?
    Mit einem Mal verspürte Helene unbändigen Hunger. Seit dem frühen Morgen, als sie aus dem Haus gelaufen war, hatte sie nichts mehr gegessen. Die Zeit, in der sich die Familie am Tisch zum Abendessen versammelte, war gewiss längst vorüber. Helene seufzte erneut. Minutenlang starrte sie aufs Wasser, bis sie begriff, dass niemand mehr käme, um nach ihr zu suchen. Ihr sank der Mut.
    Ratten huschten über das Pflaster, in Scharen, schattengleich. Die Dämmerung setzte ein, sie musste zurück, bevor sich der Hafen leerte. Langsam setzte sie sich auf, ignorierte die anzüglichen Blicke der Seemänner, die sie erst jetzt zu bemerken schienen, stieg über augenlose Fischköpfe und Grätengerippe, die die Fischweiber am Morgen hinterlassen und streunende

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