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Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
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erhellten, würde sie mit der ersten Postkutsche nach Jena reisen.
     
    Das Haus war still, als Helene auf den dunklen Gang trat. Jeden ihrer Schritte begleitete ein lautes Knarren des Holzbodens, immer wieder hielt sie inne und horchte angespannt.
    Sie hatte nicht schlafen können, die ganze Nacht nicht. Mit klopfendem Herzen hatte sie über ihre Flucht nachgesonnen. Wollte sie wirklich allein fort?
    Sie dachte an Wegelagerer und Strauchdiebe, an eine Reise, die sie weiter fort führte, als sie denken konnte, allein und ohne Schutz. Ins Ungewisse. Eine Zukunft an der Seite des Medizinalrats war ihr unter der wärmenden Decke plötzlich gar nicht mehr so schlimm erschienen. Sie würde es ertragen. Vater hatte recht, jedes Mädchen musste sich irgendwann in eine Ehe fügen und lernte im Lauf der Jahre, ihren Mann zu lieben.
    Sie hatte sich aus dem Bett geschwungen und aus dem Dachfenster gestarrt. Die dunklen Wolken hatten sich gelockert, hier und da blitzte ein Stern und sprach ihr funkelnd Mut zu. Frau Medizinalrat, schien ihr das Gestirn zu schmeicheln, das war doch etwas. Ein schönes Haus, eine gut gehende Praxis. Doch dann kam die Erinnerung an jenen furchtbaren Tag im Sommer, als sie Meschkat Arzneien bringen sollte, die der Vater für ihn bereitet hatte. Es war ein heißer Tag gewesen, heiß genug, um all die Unterröcke zu verfluchen, die sie im Gehen höherhob, um den Lufthauch zu spüren, den die Bewegung der Beine verursachte.
    Sie bog in den Nachtigallensteig ein, lief zwischen hohen Häusern entlang, nicht so hoch wie die der Altstadt, doch weit stattlicher. Nicht einer ihrer Bewohner wollte sich bei dieser Hitze auf die Straße wagen. Man sah Dienstboten, die umhereilten. Schaulustige, die eigens herkamen, um die feinen Vorgärten zu bewundern, die seltenen Pflanzen aus England oder sogar aus dem fernen Italien. Und nun sie, in der Hand eine Tasche mit bis zum Rand gefüllten, fest verkorkten Phiolen.
    Die Tür zu Meschkats Praxis war geschlossen. Sie klopfte zaghaft, |46| drückte die Klinke herunter, als auch ihr leises Rufen nicht erhört wurde. Sicher war er gegangen, um einer der feinen Damen Luft zuzufächeln oder ihr Meyenblümleinwasser einzuflößen, ihren blutleeren Leibern Leben einzuhauchen. Doch als sie hineinging, durch den kühlen Gang zum hinteren Zimmer, das zum Garten hinausführte und in dem er seine Patienten zu behandeln pflegte, vernahm sie ein eigenartiges Geräusch. Zunächst dachte sie, es sei etwas geschehen, ein Stöhnen drang in ihr Ohr, das ihr Gefahr zu verraten schien. Doch wie wenig geholfen werden musste, erkannte sie erst, als sie beherzt die Tür aufstieß und eine scharfe Wolke stehenden Schweißes ihr den Atem nahm. Schnaufen und Grunzen ertönten von links, dort sah sie ihn, mit hochrotem Kopf und verrutschter Perücke. Sich an etwas reibend, das wie ein riesiger aufgebauschter Stoffballen aussah. Erst als sie näher trat, staunend und mit offenem Mund, erkannte sie zwei Hinterbacken, in die er hineinstieß, ruckartig, mit Lauten, die sie niemals einem Menschen zugedacht hätte.
    Eine Bestie, hatte es in ihr geschrien, doch die Worte waren ihr nicht über die Lippen gekommen. Die Tasche mit den Arzneimitteln fiel zu Boden, der Inhalt zerbarst mit leisem Klirren, das sich auf kuriose Weise neben dem nun anschwellenden Gebrüll hervortat, vor dem sie floh. Fort, nur fort von hier, vorbei an Dienstboten, die ihr mit erhobener Augenbraue nachsahen, ohne die Contenance zu verlieren, die Gassen entlang.
    Helene blickte hinaus und sog die Luft ein. Die Erinnerungen waren lebendiger, als ihr lieb war, und sie drangen ohne jede Diskretion in ihre Gedanken, als sie nun am Dachfenster stand und die Sterne am Himmel suchte, die sich wieder hinter einer schwarzen Wolkenfront verbargen. Niemals würde sie dieses Tier ertragen können, den Gestank, die heftigen Bewegungen, das Schnaufen und Brüllen.
    Leise, ganz leise, hatte sie begonnen, alles zusammenzutragen, was ihr lebenswichtig erschien, ebenso das feine Sonntagskleid, das bereits zweimal mit einer Samtborte verlängert worden war. In Windeseile hatte sie die Sachen in die Reisetasche des Vaters gestopft, |47| bis sie sich nur noch mit Gewalt schließen ließ, um sie dann neben sich auf das Bett zu stellen, wo sie mit pochendem Herzen auf das Licht des Morgens wartete.
    Dann, endlich, als sie Luise hörte, das nehrungische Hausmädchen, das sein Tagewerk noch vor Sonnenaufgang begann, schnellte sie hoch und lauschte dem

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