Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
das Gesicht, aus Angst, Auguste würde fortfahren, sie mit der Scherbe zu traktieren. »Es tut mir leid.«
»Du bist eine einzige Verschwendung!«, spie Auguste aus. »Los, steh auf. Ich werde mich später um dich kümmern.« Unter Tritten und Schlägen trieb sie Helene zur Leiter, die zum engen Hängeboden über der Speisekammer führte. Kaum war sie oben, schloss Auguste die Klappe des Verschlags, legte den Riegel um und ließ Helene in völliger Dunkelheit zurück.
Ein zarter Geruch drang in Helenes Nase und verkündete das Scheitern ihres hoffnungsvollen Plans. Und während Auguste ihr im Fortgehen die schlimmsten Verwünschungen zurief, fühlte sie mit zitternden Händen nach dem kleinen Beutel in den feucht gewordenen Schichten des Rockes, bis Glas in ihre Finger schnitt. Das Fläschchen mit dem Rosenwasser war zerbrochen.
Eine Weile lag Helene schluchzend da. Sie ergab sich in ihr Schicksal, bis sich die Stimme von Madame Irmeline in ihre Gedanken stahl und den einen Satz wisperte, immer und immer wieder: »Dir wird verwehrt, deinen Weg zu gehen, doch wenn du nicht zeitig ans Ziel kommst, vergehen viele Jahre, bis die Wahrheit ans Licht kommt.«
Helene starrte in die Dunkelheit.
Ihre Herrin war unberechenbar. Sie würde sie fortan einsperren, nicht mehr allein in der Wohnung lassen. Wenn sie jetzt zögerte, war es zu spät. Auguste würde nicht vor dem Nachmittag zurückkehren, sie musste unverzüglich handeln.
Mit zitternden Händen band Helene den Beutel ab und legte ihn zur Seite. Vielleicht konnte sie ein paar Tropfen des Rosenwassers retten, um ihr Können zu demonstrieren. Ohne die versprochene Zutat würde Sprugasci ihr nur fünf Reichstaler zahlen. Das war nicht genug, aber es war mehr, als sie sich in einem Monat erarbeiten konnte. Und dass Auguste nach immer neuen Gründen suchen würde, um das ihr zustehende Gehalt nicht zu zahlen, hatte sie nun verstanden.
Helene trat gegen die Luke. Mehrmals, immer heftiger. Wut und |119| Verzweiflung trieben sie an, bald stand ihr der Schweiß auf der Stirn, doch der Riegel hielt stand.
Sie überlegte fieberhaft. Tränen rannen ihr über die Wangen. Rasch, sie hatte nicht viel Zeit, es musste doch gehen. Die Klappe öffnete sich nach innen, sie brauchte etwas zum Stemmen. Ihre Hände glitten tastend über den Boden der Kammer, doch sie fand nur die raue Decke, auf der sie nachts lag, daneben die Reisetasche.
In ihrer Verzweiflung schlug sie mit der Faust auf das Holz. Zu ihrer Überraschung begann eine der Dielen zu vibrieren, und als sie das Ende des Bretts griff und daran rüttelte, gab es ein wenig nach. Keuchend riss sie daran. Eine Lücke tat sich auf, wurde immer größer, bis sie die Regale der Speisekammer unter sich sah. Mit der Kraft aufkeimender Hoffnung stemmte sie ein weiteres Brett hoch, nun war der Spalt groß genug, um sich hindurchzuzwängen. Sie ließ sich hinab und sprang auf den Boden. Dann stieg sie noch einmal die schmale Leiter hinauf, öffnete den Riegel und tastete durch die Luke nach dem durchnässten Beutel.
Vorsichtig legte sie ihn auf den Küchentisch, schnitt ihn auf und untersuchte die Scherben. Der süße blumige Geruch breitete sich aus, klebte an Händen und Kleid. Aber keine hatte auch nur einen Tropfen halten können, das Rosenwasser war vollständig versickert.
Mit einem wütenden Aufschrei wischte sie die Scherben vom Tisch. Nun besaß sie gar nichts mehr, außer der Hoffnung. Albert hätte jetzt ganz gewiss gewusst, was zu tun war. Er war stets die Ruhe selbst, überlegt und klug.
Helene wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Der Pass. Sie musste ihn augenblicklich finden. Und sie würde zuallererst in der Stube suchen, Augustes intimstem Reich.
Der Boden war mit einem eleganten Läufer bedeckt. Feiner Staubgeruch hing in der Luft, vermengt mit dem satten Duft nach Ambra, den ihre Herrin gern trug. Vor den drei Fenstern, die zur Straße hinausgingen, hingen schwere, grüne Vorhänge. Ein weiterer schloss die Öffnung zum Alkoven, dem Schlafgemach.
Helene sah sich hastig um. Wo sollte sie mit ihrer Suche beginnen?
|120| Sie entschied sich für die beiden Wandschränke, die zwischen den Fenstern standen, und fand Wolle und Stickmuster, eine begonnene Handarbeit. Daneben eine Schachtel mit Briefen. Sie spähte in die silbernen Kannen der Servante, hinter das kunstvoll bemalte Porzellan. Weiter ins Tafelklavier, ins Innere der Standuhr, zwischen die Polster der Sitzmöbel, in die Schublade des kleinen Tisches,
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