Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
Irmeline versenkte sich in die Karten, schloss die Augen, als führe sie ein Zwiegespräch mit sich selbst. Dann schüttelte sie den Kopf. »Ich sehe eine große Liebe, aber eine ebensolche Bürde. Entscheide klug, alles hat seine Zeit.« Sie blickte auf, starrte sie mit weiten Pupillen an. »Doch sei auf der Hut.«
Helene nickte langsam. Was Madame Irmeline sagte, blieb vage, ein undeutlicher Schemen, hingeworfen und Helenes Phantasie überlassen. Aber sie wollte es gar nicht genauer wissen. Denn eine der Karten erklärte sich auch so: Es war der Sensenmann.
Die Nacht schien nicht enden zu wollen, doch Helene fand keinen Schlaf. Es war ein einziger Satz, der in ihr widerhallte und der sie antrieb, ihre Situation so rasch als möglich zu ändern: »Du bist am falschen Ort.«
Ihre Hand tastete nach der Reisetasche, sie zog Alberts Brief hervor und drückte ihn an sich. Sie war bis Berlin gekommen, und sie würde es auch bis nach Jena schaffen. Sie überdachte ihre Möglichkeiten, spann mal den einen, mal den anderen Plan, um ihn im nächsten Moment wieder zu verwerfen. Alles hing davon ab, dass Auguste sie für ein paar Stunden allein ließ. Und sie Zeit genug hätte, den Pass zu finden, ohne den sie nur auf gefahrvollen Umwegen nach Jena gelangen konnte.
Als sie endlich einen Entschluss gefasst hatte, graute der Morgen. Helene kletterte über die Leiter vom Hängeboden in die Speisekammer und schlich von dort in die Küche. Ihre nackten Füße tapsten leise über den Fliesenboden hin zum Fenster. Der Mond schien in einer schmalen Sichel, verschwand langsam im zunehmenden Zwielicht.
»Albert, ich komme«, flüsterte Helene. Wie aus dem Nichts hatte sie der Gedanke befallen, dass sie nicht nach Jena reisen |112| würde, um von ihrem Bruder gerettet zu werden. Irgendetwas sagte ihr, dass es der Bruder war, der gerettet werden musste.
Als ihre Herrin sie nur wenige Tage später zu sich rief, schien endlich die Gelegenheit gekommen, auf die sie seit Tagen mit wachsender Ungeduld wartete.
Auguste hatte von einer Juweliersgattin die Einladung erhalten, einen Ausflug ins Grüne zu unternehmen. Man wolle sich ein wenig in frischer Luft bewegen und etwas für die Gesundheit tun.
»Denk dir nur, was das für mich bedeutet«, rief sie in allerbester Laune. Sie stand noch im Morgenrock, wobei ihr Haar bereits sorgfältig frisiert war. »Eine Kutschfahrt mit der Frau des Hofjuweliers! Ihr Gatte Theodor steht in engstem Kontakt mit Friedrich Wilhelm von Preußen, dem Neffen des Königs. Und Friederike selbst ist eine enge Freundin der Wilhelmine Riez.« Sie runzelte die Stirn. »Nun schau doch nicht so fragend. Jeder hier weiß, dass das Fräulein Riez die Mätresse des Thronfolgers ist, aber ihr jungen Dinger habt ja gar keine Ahnung vom Hofleben. Auf jeden Fall möchte ich ihr eine angemessene Aufmerksamkeit überreichen. Du wirst rasch zu Sprugasci gehen und eine Schachtel des allerbesten Konfekts kaufen.« Dabei hielt sie ein Kleid mit einem über mehrlagigen Stoffbahnen hochgerafften Rock vor ihren Körper und drehte sich im Spiegel. »Vielleicht kann ich sie sogar dafür gewinnen, am literarischen Salon teilzunehmen«, sagte sie versonnen und entließ Helene mit einer geringschätzigen Handbewegung. »Aber nicht trödeln, ich will Friederike auf keinen Fall warten lassen.«
Helene lächelte, während sie die Dorotheenstraße entlang in Richtung der lindengesäumten Chaussee eilte. Sie musste sich sehr zusammennehmen, um nicht laut und ganz undamenhaft zu pfeifen. Ihre Hand befühlte den kleinen Beutel, den sie in den Lagen des Rockes verbarg und in dem sich das Fläschchen mit Rosenwasser befand, das sie am Morgen ihrer Flucht in der Apotheke des Vaters eingesteckt hatte. Heute war der Tag gekommen, der ihr die Freiheit bringen sollte. Das Konfekt der Konditorei hatte den Ruf, ein |113| himmlischer Genuss zu sein, doch diese Auffassung schien sich einer Mode zu verdanken, denn das Gebäck war trocken und die Schokolade enthielt mehr Fett als Kakao. Helene aber hatte etwas, das sich für Herrn Sprugasci und dessen Renommee als Zuckerbäcker als wertvoll erweisen könnte.
Es war ein schöner, aber kalter Herbstmorgen. Ganz Berlin schien zusammengekommen zu sein, um unter den prächtigen Linden auf und ab zu flanieren, vorbei an Barockpalais mit großen Fensterfronten, in deren oberen Stockwerken Menschen wohnten, denen es durch Stand oder Reichtum erlaubt war, einen Platz nahe des Stadtschlosses zu
Weitere Kostenlose Bücher