Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
ihre Lippen und ließ den dickflüssigen Saft langsam in ihren Mund laufen, wo sie ihn eine Weile behielt, mit der Zunge hin und her schob und die unterschiedlichsten Substanzen erkannte: Alraunwurzel, Bilsensamen und Lattich, vermengt in starkem Gerstensaft. War ihr Verstand nur wenige Minuten zuvor fest entschlossen, sich dem Schicksal zu ergeben, so rebellierte nun ihr Instinkt. Sie spie den Trank aus.
»Wie können Sie Bilsensamen verwenden? Noch dazu in einer derart hohen Konzentration!«, rief sie aufgebracht. Ihre Zunge war augenblicklich betäubt, in ihrem Mund breitete sich ein schaler Geschmack aus.
Vogt fluchte leise. »Woher wollen Sie wissen, was in dem Trank ist?«
»Sie vergessen, dass ich die Tochter eines Apothekers bin«, sagte sie mit schwerer Zunge.
|194| Er trat näher, die Hände in den Hosentaschen. »Ja, ich vergaß. Auch Albert wusste viel von diesen Dingen, hat uns immer wieder mit seinem Wissen überrascht. Die Dosierung des Bilsenkrauts hat er selbst überprüft, ebenso die der anderen Ingredienzien. Es vermag ein junges Mädchen in einen tiefen Schlaf fallen zu lassen, der nur kurz währt. Sobald wir Nieswurz mit Essig vermischt in Ihre Nasenlöcher geben, wachen Sie wieder auf.«
Ihr Bruder hätte die Dosierung nie so stark gewählt, dessen war sich Helene sicher. Für ein Vorhaben, wie Vogt es beschrieb, war wenig mehr als die Hälfte notwendig. »Ja, das sagen Sie. Aber kann ich Ihnen auch glauben?«
»Selbstverständlich.« Er zog die Brauen in die Höhe und wirkte beinahe amüsiert. »Am Nachmittag noch dachte ich, Alberts Schwester sei eines jener scheuen Tiere, denen man sich mit Vorsicht nähern müsse, um sie nicht zu erschrecken. Wie konnte ich mich nur so täuschen.«
»Ich bin nur vorsichtig. Wollen Sie mir das verübeln?« Sie rutschte unruhig auf der Pritsche hin und her. »Zudem frage ich mich, was Ihre Experimente zur Verlängerung des Lebens mit diesem Trank zu tun haben. Ist nicht die medizinische Wissenschaft eine Frage der Experimente an Substanzen?«
»Sie sollten nicht über Dinge nachdenken, von denen Sie nichts verstehen!« Vogt setzte sich neben sie und fügte ein wenig freundlicher hinzu: »Die Medizin dieser Zeit teilt sich in Scharlatanerie und seelenlose Wissenschaft. Doch weder das eine noch das andere vermag zum Kern der Dinge vorzustoßen. Wahre Heilung kann nur erfolgen, wenn man den Urgrund dessen findet, was unser Sein bestimmt. Wir sind im Begriff, es der Schöpfung gleichzutun!« Er sprach ganz ruhig. »Sie werden verstehen, wenn wir niemandem erlauben können, uns bei der Arbeit zuzusehen.«
Seine Worte erinnerten sie an die ihres Vaters, wenn er über seinem Arbeitstisch im Labor gebeugt stand und ihr sein Vorgehen erklärte. Wahre Heilung, so betonte er stets, sei das Ergebnis der Verbindung von Wissenschaft und Mystik. Das eine könne ohne das andere nicht erfolgreich sein.
|195| Helene lehnte sich zurück und sah zur Zimmerdecke, wo eine überdimensionierte Sonne prangte, mit einem gemalten Gesicht und Strahlen gleich flatternden Haaren. Die Sonne, das allsehende Zentrum der Welt, die das Leben der Menschen erhellt. Sie blickte zu Vogt, der noch immer neben ihr saß und sie nachdenklich ansah.
»Werden Sie da sein, wenn ich erwache?«, fragte sie.
»Ja, das werde ich.«
Helene atmete tief ein, hob den Becher, setzte ihn an und leerte ihn in einem Zug. Bis auf einen kleinen Rest, der unmerklich im Tuch der Pritsche versickerte, als sie den Becher mit der Öffnung nach unten hielt. Dann legte sie sich der Länge nach hin und ließ ihren Geist in tiefer Betäubung entschwinden.
Als Helene erwachte, war es beinahe dunkel. Auf dem Tisch neben der Pritsche brannte eine Kerze und erhellte nur schwach den Raum, der nun nach verbrannten Kräutern roch. An dem tannigen, süßlich würzigen Duft erkannte sie Weihrauch, der in Verbindung mit dem schwachen Geruch nach Säure, der immer noch in der Luft hing, giftigem Atem gleichkam, unheilvoll und drohend. Irritiert sah sie sich um.
Hatte sie gehofft, Vogt würde bei ihr sein, wenn sie die Augen aufschlug, so musste sie nun feststellen, dass sie allein war. Hatte die Betäubung zu früh nachgelassen?
Sie setzte sich vorsichtig auf, verspürte heftigen Schwindel und schloss die Augen, wartete, dass er vorüberging. Eigenartige Bilder begannen sich in ihrem Kopf zu formen, überall Nacktheit und Blut. Ihr Leib schien sich zu dehnen und zu weiten, über allem ein drohender Klang, der einem
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