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Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
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verließ die Gaststube.
     
    Es war bereits später Abend, als sie die lindengesäumte Promenade an der Stadtmauer entlang nach Osten gingen und beim Saaltor den Weg über den Mühlgraben zum alten Rittergut nahmen. Festlich gekleidete Burschen und Mädchen folgten demselben Weg, lachend und scherzend, teils grölend und singend, in den Händen hell leuchtende Fackeln oder ölgefüllte Laternen und gelbe Ordenszeichen auf der Brust. Vogt erklärte, sie strebten zum Gasthaus
Zur Tanne
, das außerhalb der Stadt lag und sich seit einiger Zeit größter Beliebtheit erfreute.
    Ein paar Burschen begannen, sich um ein Mädchen zu streiten, stießen sich gegenseitig vor die Brust, beschimpften sich in unflätigster Weise. Erschrocken wich Helene zur Seite.
    »Keine Sorge«, sagte Vogt und legte seinen Arm um ihre Schultern. »Die Studenten erholen sich von den geistigen Anstrengungen des Studiums und amüsieren sich ein wenig, da kommt es manchmal zu Raufereien. Das gehört in Jena zum guten Ton.«
    »So wie das Duellieren?«, fragte Helene und schüttelte seinen Arm ab. Sie fühlte sich unwohl. Doch es lag nicht an den raufenden Studenten, sondern an ihrem Begleiter, der sie weiter ins Ungewisse führte. Vogt hatte ihr nicht verraten wollen, wohin sie gingen, und je weiter sie sich von den Toren der Stadt entfernten, desto stärker wurde der Wunsch, auf der Stelle umzukehren. Nur der Gedanke, durch Vogt mehr über Alberts Tod erfahren zu können, hielt sie davon ab.
    Eine Gruppe junger Burschen zog an ihnen vorbei, offenbar hatten sie bereits früh zu feiern begonnen. Dümmlich lachend marschierten sie im Gleichschritt und stimmten einen jämmerlichen Gesang an:
    Wenn sie denn studieren sehr
    Dass ihnen wird der Kopf zu schwer,
    Gehen sie bei Nacht spazieren,
    Musizieren,
    |190|
Und vollführen
    Eine solche Lustbarkeit,
    Dass sich Leib und Seel erfreut.
    Vogt fiel in das Lied ein und winkte ihnen zu, als die Burschen sich ins Gras fallen ließen, lachend und offenbar zu betrunken, um wieder aufzustehen.
    Eine Weile gingen sie schweigsam. Der Mond lugte durch die Wolkenberge, bis er hinter ihnen verschwand. Die Luft war feucht und schwer vom Regen des Tages. Der Weg führte bergan, eine lange Brücke hinauf, ohne dass Helene Wasser sehen konnte. Aber sie hörte das Rauschen und spürte eine Kälte, die sie frösteln ließ.
    »Was wissen Sie noch über Albert?«, fragte sie unvermittelt.
    »Ihr Bruder war ein feiner Bursche«, antwortete Vogt. »Er war wissbegierig und klug, hatte stets das Wohl der Menschen im Sinn.«
    »Wie eng waren Sie befreundet?«
    »So eng, dass sein Tod für mich einen Verlust bedeutet, der nicht wiedergutzumachen ist.« Er blieb stehen, und als er fortfuhr zu sprechen, klang seine Stimme heiser. »Alberts Tod hat mich zutiefst erschüttert, und wenn ich könnte, so würde ich die Uhren zurückdrehen, alles, was geschehen ist, ungeschehen machen.« Er sah so traurig aus, dass es sie erschreckte. Er atmete schwer, stieß kleine Atemwölkchen in die kalte Nachtluft. »Ich kann gut verstehen«, fuhr er fort, »dass Sie mehr darüber wissen möchten. Doch ich kann Ihnen nicht mehr sagen, als ich es bereits getan habe. Wen Sie auch fragen werden, sie alle werden bezeugen: Alberts Tod war die unglückliche Folge eines Streits.«
    Helene schlang die Arme um ihren Körper. »Wer war der Mann, der ihn erstochen hat?«
    »Carl Lohenkamp, ein Student der Theologie. Ein jähzorniger Bursche. Er hat sich aus dem Staub gemacht, um der Gerichtsbarkeit zu entgehen.«
    Carl Lohenkamp. Helene prägte sich den Namen ein, als sie den Weg über den Fluss fortsetzten, der nun unter ihnen war und eisige Kälte mit sich trug.
    |191| Noch bevor sie die Saale überquert hatten, sah Helene am anderen Ufer die hell erleuchteten Fenster des Gasthauses, eines imposanten dreistöckigen Gebäudes, von dem Vogt nun erzählte, dass es Teil des ehemaligen Rittergutes war und sich in diesen Mauern noch vor wenigen Jahren die Rosenschule befunden hatte, die sich um die Ausbildung von Waisenkindern kümmerte. Helene wünschte plötzlich, den anderen zu folgen, in den Strom der lachenden und diskutierenden Menschen einzutauchen und dort über all die Dinge zu sprechen, die ihr auf der Seele brannten. Es gab noch so viel, was seit Alberts Abreise aus Königsberg geschehen sein musste, was sie nicht wusste, und sie war sich sicher, Vogt würde diese Lücken füllen können.
    Doch sie gingen, kaum hatten sie die Saale überquert, nach

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