Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
unterirdischen Ton gleich jede Pore zu durchströmen schien.
Das Bilsenkraut, dachte sie und schob auch das Bild sich windender nackter Leiber auf die halluzinierende Kraft dieser Pflanze. Erschrocken öffnete sie die Augen, versuchte zwinkernd, ihren Geist von den Eindrücken zu befreien. Dennoch verblieb ein seltsamer Taumel, als sie sich aufsetzte.
In ihrem Körper brannte ein furchtbarer Schmerz. Als sie den |196| Ärmel ihres Kleids zurückschob, sah sie, dass man Armbeuge und Handgelenk verbunden hatte. Was war geschehen, und wo war Johann Vogt?
Plötzlich hörte sie leise Schritte. »Wer ist da?«, rief sie. »Johann?«
Sie wartete einen Augenblick, und da niemand antwortete, rutschte sie von der Pritsche. Der Schwindel kam wieder, ihre Beine drohten zu versagen. In ihrem Mund war ein unangenehmer Geschmack, der von dem Trank herrühren mochte. Krampfhaft klammerte sie sich an der Pritsche fest, bis die Beine sie wieder zu tragen vermochten. Dann durchschritt sie auf unsicheren Füßen den Raum und versuchte, die Tür an der Längsseite zu öffnen. Irgendwo musste Johann Vogt doch sein.
Die Tür führte in einen schmalen Gang, an dessen Wänden kunstvolle Malereien prangten, in denen sich Blut aus dem Herz einer Schlange ergoss und die Zeiger der Weltuhr das nahe Ende des irdischen Daseins ankündigten. Der Duft von Weihrauch wurde stärker. Sie war im Begriff umzukehren, als von irgendwoher ein lautes Stöhnen erklang.
»Ist da jemand?«, fragte sie erneut, dieses Mal leiser.
Als sie dem Gang und seinen Biegungen und Kurven weiter folgte, schienen die Wände immer näher zu kommen, bis sie bemerkte, dass sie sich nach oben hin verjüngten. Je weiter sie ging, desto größer wurde ihr Unbehagen. Gerade als sie glaubte, sie laufe im Kreis und würde wieder am Eingang herauskommen, endete der Weg in einem großen Raum, dessen Fenster man mit dunklen Stoffen verhängt hatte. Er hatte rotbemalte Wände und war von Kerzen erhellt. Den Boden bedeckte ein dunkler Teppich, an dessen vorderem Ende eine Schlange eingewebt war, die sich um einen Stab wand. Dahinter stand eine Art Altar, nur größer, mit einem funkelnden Tuch bedeckt, auf ihm lag ein aufgeschlagenes Buch. Plötzlich glaubte sie, schon einmal hier gewesen zu sein, doch als sie dem Gedanken nachgehen wollte, löste er sich auf.
Ihr Blick wurde von einem Bild angezogen, von dem Porträt eines Mannes, der sie mit durchdringenden Augen anzustarren |197| schien. Eine ungeheure Anziehungskraft ging von seinem Antlitz aus, der sie sich nur schwer zu entziehen vermochte und die sie erzittern ließ.
Helene schreckte zurück, schon wollte sie den Raum in aufkeimender Panik verlassen, da entdeckte sie etwas, das ihr den Atem stocken ließ. Neben der Tür stand eine Pritsche, etwas breiter als die, auf der sie gelegen hatte, darauf lag jemand, der sich wand und erneut zu stöhnen begann.
Helene zögerte, dann ging sie auf die Gestalt zu. Im Näherkommen erkannte sie einen alten Mann mit eingefallenem Gesicht und trüben Augen. Seine Haut schimmerte gelblich, beinahe wächsern. Um seine linke Armbeuge lag ein Verband, gleich dem, den sie trug.
Als Helene sich über ihn beugte, fuhr der Mann zusammen, starrte sie an und umklammerte ihre Hand. »Helfen Sie mir«, röchelte er. Schaum trat aus dem Mund. »Helfen Sie mir!« Seine Finger bohrten sich in ihre Haut, die Augen flackerten unruhig.
Helene versuchte, ihren Arm wegzuziehen, doch er hielt sie mit erstaunlicher Kraft umklammert. Voller Furcht schlug sie auf seine Finger ein, immer härter, bis er sie mit einem wütenden Aufschrei aus seinem Griff entließ. Als sie aus dem Raum floh, erklangen Schritte, die immer lauter wurden.
»Johann?« Keine Antwort, nichts außer dem Klang der Schritte und dem lauten Gezeter des Alten. »Johann!«
Ihr Herz raste, während sie den Gang entlangtaumelte. Erst jetzt bemerkte sie eine schmale Treppe, die im Gang mündete. Jemand kam hinauf, und als Helene den dunklen Schopf eines Mannes sah, floh sie zurück in den ersten Raum, in dem sie gelegen hatte, griff nach dem Tischchen und schleuderte es der Gestalt entgegen, die nun in der Tür erschien.
Hinter ihr ertönte Poltern und Klirren, dann lautes Fluchen, sie hastete hinaus, lief den Korridor entlang auf den schmalen Pfad. Kühle Nachtluft schlug ihr entgegen und ließ ihre Sinne klarer werden. Wo sollte sie hin? Auf dem Weg in die Stadt würde er sie gewiss einholen, also folgte sie der entfernten Musik, die aus
Weitere Kostenlose Bücher