Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
ich.«
»Dann beurteilen Sie, ob ich krank bin oder nicht.« Er lächelte. |230| »Ich habe das Entsetzen in Ihrem Blick gesehen, als Sie sich umsahen.«
»Sie irren sich.«
»So glauben auch Sie, der kranke Mensch sei nichts weiter als ein Tier, das es zu bändigen gelte?« Sein Lachen klang heiser. »Die Wahrheit aber ist eine andere. Der Mensch unterscheidet sich vom Tier nur durch sein Gewissen und die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden. Jene, denen dieses abhanden gekommen ist, sind die schlimmsten Tiere, denn sie verbinden das Bestialische mit der geplanten Handlung. «
Hahnemann horchte auf. Der Mann wusste sich auszudrücken.
»Warum hat man Sie eingesperrt?«
»Weil ich etwas besitze, das sie mir entreißen wollen. Doch sosehr sie mich peitschen, auf Drehräder spannen, in Wasser tauchen oder mit heißen Eisen foltern mögen, sie werden mich nicht zermürben. Mein Leben ist sicher, solange sie das Gewünschte nicht bekommen, also klammere ich mich mit aller Macht daran fest und hoffe, irgendwann zu entkommen.« Er lächelte, und seine Augen begannen wieder zu flackern. »Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich mich nicht nach Freiheit sehne. Meinen Körper haben sie zerstört, doch mein Wille ist ungebrochen.«
»Was können Sie schon besitzen?« Hahnemann fragte es mehr aus Höflichkeit, doch die Augen des Mannes verengten sich zu schmalen Schlitzen.
»Kann ich Ihnen vertrauen?«
»Gewiss.« Welch absurde Situation, schoss es Hahnemann durch den Kopf, doch irgendetwas drängte ihn zu bleiben.
»Ich bin im Besitz einer alchemistischen Schrift, die einst dem Großprior Johnssen gehörte, der Rezeptur zur Herstellung einer Arznei von unermesslicher Kraft. Einer Formel, die einem geübten Alchemisten den Weg offenbart, die Elemente zu transformieren und sie mit der göttlichen Kraft zu verbinden.« Seine Augen nahmen einen eigentümlichen Ausdruck an. »Sie vergeuden das Blut junger Mädchen, doch sie haben die Botschaft nicht verstanden, die zur wahren Transformation führt.« Nun begann er zu weinen.
|231| Das war mehr, als Hahnemann zu ertragen vermochte, und er wandte sich zum Gehen. Nicht eine Sekunde länger würde er in diesem Irrenhaus bleiben.
»Warten Sie. Bitte!« Die Stimme des Mannes war nur noch ein leises Krächzen. »Sagen Sie meinem Vater, dass ich hier bin. Er wird mich befreien. Bitte, ich flehe Sie an.«
Hahnemann fühlte unendliches Mitleid mit dem Erbarmungswürdigen. Er wandte sich ihm wieder zu. »Ich höre.«
»Mein Name ist Albert Steinhäuser«, flüsterte der Mann so leise, dass Hahnemann ihn kaum verstand. »Ich bitte Sie inständig, sich an meinen Vater zu wenden, Friedrich Steinhäuser, Apotheker in Königsberg.«
Ein sirrendes Geräusch fuhr an Hahnemanns Ohr vorbei und ließ den Mann mit lautem Aufschrei zurückzucken. Er ließ die Gitterstäbe los, taumelte nach hinten und fiel zurück auf den Boden, wo er auf den dicken Eisenketten zu liegen kam, mit denen seine Füße gefesselt waren. Als Hahnemann sich erschrocken umdrehte, stand der Direktor dort, in der Hand eine Peitsche.
»Sie sollten sich besser von den Irren fernhalten«, sagte er mit drohendem Unterton. »Ein Ungeübter lässt sich leicht von ihrem Anblick anstecken.«
»Ihre Methoden sind abscheulich.«
»Das hängt ganz von der Art der Betrachtung ab. Ohne Sie kränken zu wollen, muss man doch konstatieren, dass es für einen Außenstehenden nicht leicht ist, die notwendigen Zusammenhänge zu erkennen.« Er nahm Hahnemann am Arm und führte ihn den Korridor entlang zum Haupthaus. »Was wollte er von Ihnen?«
»Er war der Meinung, irrtümlich eingesperrt worden zu sein.«
»Die meisten Geisteskranken neigen zur störrischen Aufsässigkeit. Sie hängen absonderlichen Meinungen an, sind geneigt zum Streit und immer die Helden ihrer eigenen Erzählungen. In ihrer Manie hören sie Stimmen, sehen eingebildete Dinge. Und dennoch verweigern sie sich der vorgeschlagenen Mittel, weil sie meinen, nicht krank zu sein.« Er tippte sich an die Stirn. »Es ist der Kopf, |232| der leidet. Man muss die Kraft des Geistes brechen, um gründliche Heilung zu erzielen.«
»Er sprach von einer Verschwörung. Und wenn das zutreffen sollte, dann werde ich dafür sorgen, dass man Sie dafür belangt.«
»Sie werden seinen Worten doch keinen Glauben schenken wollen?« Der Direktor blieb stehen und sah Hahnemann stirnrunzelnd an. »Ich kenne nur wenige Irre, die nicht einer Art Verfolgungswahn anhängen. Die meisten argwöhnen
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