Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
dass sie ohne ihn nicht mehr leben mochte.
Nach der Hochzeit zeigte er sich großzügig, gab ihr die Möglichkeit, ihr eigenes Wissen zu erweitern, kaufte Essenzen und Zutaten, ermunterte sie, die alchemistischen Experimente ihres Vaters fortzuführen, über die sie sich anfangs noch oft unterhielten. Doch als sie sich mehr über Rosenwasser und Vanilleschoten freute als über Laugensalze und Mineralien, wandte er sich enttäuscht von ihr ab.
|235| Nun, Jahre später, hatte sich eine tiefe Melancholie in sein Wesen geschlichen, die sie mit kleinen Aufmerksamkeiten zu vertreiben suchte. Doch nicht einmal das Marzipankonfekt, das sie für ihn in vielerlei Variationen zubereitete und auf sein Kopfkissen legte, kostete er, nicht einmal aus Höflichkeit. Hingegen pries er ihre Fähigkeiten, wenn er seine Verbindungsbrüder zum Essen nach Hause einlud, und schnitt damit auf, dass selbst der Hofbäcker sich ihrer Künste bediente.
Helene versuchte, die trüben Gedanken abzuschütteln. Sie stand auf, ging in die Stube, öffnete auch dort das Fenster, entzündete eine Lampe und setzte sich auf den Sessel mit Fußteil, den Johann erst vor kurzem gekauft hatte und nach der neuesten Mode Chaiselongue nannte. Eine Tatsache, die sie verblüfft hatte, immerhin war dieses Möbelstück doch Ausdruck der Dekadenz des französischen Königs, dessen Enthauptung er mit frenetischem Jubel zur Kenntnis genommen hatte.
Der Lärm auf der Straße nahm zu, hier und dort wurde geprügelt, es war eine unruhige Nacht. Sie sah durchs geöffnete Fenster, an den Dächern der gegenüberliegenden Häuser vorbei zu den Sternen, die noch blass am Abendhimmel hingen. In Nächten wie diesen dachte sie, dass es besser gewesen wäre, ihrer Sehnsucht zu folgen und in die Heimat zurückzukehren. Denn Johann hatte sich ihr offenbar nur verpflichtet gefühlt und sie geheiratet, obwohl er für sie brüderliche Gefühle empfand. Vielleicht aber hatte sie auch nur seinen Jagdtrieb entfacht, der in dem Moment, als sie sich auf ihn einließ, zum Erliegen gekommen war. Er hatte ein einziges Mal versucht, sie zu lieben, doch das war kläglich misslungen. Sie hatten niemals darüber gesprochen, nur einmal noch hatte sie ihren Wunsch erwähnt, eine Familie zu gründen. Sie hatten sich lautstark gestritten. Am Ende war er handgreiflich geworden, und als er sich dafür entschuldigte, hatte er sie auf die Zukunft vertröstet, wenn er genug Geld besäße, um eine Familie zu ernähren. Seitdem war er Abend für Abend ausgegangen. Um zu feiern, Billard zu spielen, zu forschen, ja vielleicht auch, um zu lieben. Als angesehener Arzt und erfolgreicher Entdecker des
Vogtschen Lebenswassers
wurde er |236| inzwischen von manch hübscher Patientin hofiert, einige schrieben ihm sogar sehnsüchtige Briefe, die er allesamt in einer Schublade seines Nachttischs aufbewahrte, als wolle er sie für etwas quälen, dessen Ursache sie nicht verstand. Von einer Familie hingegen wollte er trotz wachsendem Wohlstand nichts wissen. Und vielleicht, so dachte sie nun, war es auch besser so.
Helene spürte, wie ihre Gedanken wieder nach Königsberg wanderten, wie so oft in diesen Jahren. In der Schatulle unter ihrem Bett häuften sich die Münzen, längst hatte sie das Geld für die Reise beisammen. Mehr noch: Es reichte für einen Neuanfang. Zum wiederholten Mal nahm sie sich vor, den Brief an ihren Vater zu beenden, doch sie hatte Furcht vor seiner Ablehnung, vor seinem Ärger wegen ihrer Flucht. Aber war sie nicht erwachsen genug, es zu ertragen, wenn er sie nicht mit offenen Armen empfing?
Sie wandte den Blick vom Himmel und begann, abwesend in einem Journal zu blättern, das auf dem Tisch lag, dem
Neuen Teutschen Merkur
. Sie überflog einen Beitrag, in dem sich der Verfasser an einer Definition der Freiheit des Willens versuchte, und einen anderen, in dem des in Wien verstorbenen Kaisers Leopold II. gedacht und dessen Menschenfreundlichkeit und Verdienste um sein Land gerühmt wurden.
Sie wollte das Journal gerade wieder beiseitelegen, als ihr ein Artikel ins Auge stach, dessen Verfasser ihr irgendwie bekannt vorkam:
C. W. Hufeland: Über die Verlängerung des Lebens
. Wo nur hatte sie diesen Namen schon gehört? Einer der Absätze war dick umkreist:
Eine sonderbare Methode, das Leben im Alter zu verlängern, die sich ebenfalls aus den früheren Zeiten herschreibt, war die Gerotomie, die Gewohnheit, einen alten, abgelebten Körper durch die nahe Atmosphäre frischer, aufblühender
Weitere Kostenlose Bücher