Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
die Leipziger Anstalt bestellt sei, von der man recht Gutes höre und die sogar einen Nervenarzt beschäftigen soll, der sich an der Heilung von Irren versucht.
Lieber Samuel, ich gebe zu, mich bislang um Besuche derartiger Orte gewunden zu haben, und nun, wo ich aufgrund der Dringlichkeit der Lage dazu bereit wäre, fehlt es mir an der Zeit, dieser Anfrage nachzukommen. Dr. Wichmann scheint zu denken, es sei mir ein Leichtes, mich von Gotha aus auf eine einwöchige Fahrt mit der Post einzulassen, nur um festzustellen, dass der Ort nicht ein solcher ist, wie er sich ihn für seinen Patienten vorstellt. Dennoch kann ich ihm seine Bitte nicht abschlagen.
Sogleich aber habe ich an Sie denken müssen. An Ihren klugen und gelehrten Geist, der wohl imstande ist, eine solche Anstalt zu beurteilen. Selbstverständlich werden Ihre Kosten erstattet, die Gattin des Geheimen Kanzleisekretärs hat einen ansehnlichen Betrag bereitgestellt. Wenn Sie zustimmen, werde ich augenblicklich einen Wechsel ausstellen lassen.
Ich bin mir bewusst, dass es wohl keinen Ort geben mag, an dem eine standesgemäße Unterbringung möglich ist, wohl aber soll sie
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zumindest so beschaffen sein, dass sich die Anverwandten nicht scheuen, dem Erkrankten einen Besuch abzustatten.
Bleiben Sie mir gewogen,
Ihr Freund Rudolf Zacharias Becker
Hahnemann ließ den Brief sinken. Die Anfrage kam ihm gelegen. Er hatte ohnehin vor, nach Leipzig zu fahren, um sich dort ein paar Quäntchen Chinarinde zu besorgen. Cullens Werk musste nicht nur übersetzt, sondern auch von Unstimmigkeiten bereinigt werden. Er hatte es bereits mit zahlreichen Anmerkungen versehen, doch eine Stelle regte ihn besonders auf: Auf den zwanzig Seiten, die Cullen der Chinarinde widmete, behauptete er, sie könne das Wechselfieber dank der den Magen stärkenden Bitterstoffe heilen, was ausgemachter Unsinn war.
Man konnte durch Vereinigung der stärksten bitteren Substanzen eine Zusammensetzung bekommen, welche in kleinster Gabe weit mehr kräftigende Eigenschaften auf den Magen besitzt, als die Chinarinde je zu geben vermochte. Und doch würde aus dieser Zusammensetzung kein Fiebermittel!
Ja, er würde sich die Irrenanstalt ansehen, sobald das Geld für die Fahrt eingetroffen war. Vielleicht blieb noch ein wenig übrig, für einen Laib hellen Brotes und einen großen Schinken, mit dem er Henriette gewiss eine Freude machen konnte.
Hahnemann hatte seinen besten Anzug hervorgeholt, das Haar sorgfältig im Nacken gebunden und gepudert und sah, wie Henriette ihm bestätigte, nach Monaten der Abgeschiedenheit zum ersten Mal wieder manierlich aus.
So stellte er sich dem Direktor der Irrenanstalt, die sich vor den Toren Leipzigs befand, als Abgesandter eines erkrankten Herrn von höchstem Stande vor, dessen Familie sich nach den Unterbringungsmöglichkeiten erkundigen wolle. Er habe gehört, man verstünde es hier nicht nur, die Kranken zu verwahren, sondern behandle, ja heile ihre Gemütskrankheiten sogar.
Doktor Ferdinand Hartlaub, Direktor und zugleich Nervenarzt |227| der Anstalt, ein breitschultriger Mann, reichte ihm die Hand und führte ihn in ein nüchtern eingerichtetes Zimmer, in dem sich ein Tisch, vier Stühle und ein Schrank mit von Lederbändern zusammengehaltenen Papieren befanden.
»Ich verstehe Ihr Anliegen sehr gut, Anstalten wie diese heben sich von den üblichen Tollhäusern ab. Hier gibt es ausschließlich Wahnsinnige, keine Strafgefangenen, und wir tun alles, um ihre geistige Gesundheit zu verbessern. Selbstverständlich werden wir uns bemühen, den hochgestellten Mann standesgemäß zu versorgen, und ihm eine eigene Zelle zuzuweisen, die er in Begleitung verlassen kann. Es gibt einen schönen, von einer Mauer umgebenen Garten mit Blumen und einem Gemüsebeet, in dem die weniger stark Erkrankten sich bewegen können, dazu eine Kapelle zur geistigen Erbauung. Für den hohen Herren könnte man seinen Raum gewiss auch hübsch einrichten. Für einen anständigen Betrag«, und das sagte er mit einem breiten Grinsen, »ist allerhand zu machen.«
»Und mit welchen Methoden versuchen Sie, Ihre Insassen zu heilen?«, fragte Hahnemann mit wachsendem Interesse.
Er antwortete mit einem Schulterzucken. »Wir haben recht gute Erfolge vorzuweisen. Leider ist jedoch eine wirksame Maßnahme, die eine dauerhafte Heilung bewirkt, noch nicht gefunden, und solange muss man alterprobte Mittel anwenden.«
»Und die wären?«
»Neben den Anwendungen durch Tauchen in kaltem
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