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Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
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Jugend zu verjüngen und zu erhalten.
    Helene blätterte um und fand einen weiteren Absatz, der angestrichen worden war. Sie murmelte die Worte beim Lesen mit und war erschrocken über die Polemik des Inhalts:
    Aber am ergiebigsten an neuen und abenteuerlichen Ideen über dieses Problem war jene tausendjährige Nacht des Mönchtums, wo
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Schwärmereien und Aberglauben alle reinen naturgemäßen Begriffe verbannten, wo zuerst der spekulative Müßiggang der Klöster diese und jene chemische Erfindung veranlasste, aber dieselbe mehr zur Verwirrung als Aufhellung der Begriffe, mehr zur Beförderung des Aberglaubens als zur Berichtigung der Erkenntnis nutzte. Diese Nacht ist es, in der die monströsesten Geburten des menschlichen Geistes ausgebrütet und jene abenteuerlichen Ideen von Behexung, Sympathie der Körper, dem Stein der Weisen, geheimen Kräften, Chiromatie, Kabbala, Universalmedizin u. s. w. in die Welt gelegt oder wenigstens ausgebildet wurden, die leider noch immer nicht außer Kurs sind und nur in veränderten und modernisierten Gestalten immer noch zur Verführung des Menschengeschlechts dienen. In dieser Geistesfinsternis erzeugte sich nun auch der Glaube, dass die Erhaltung und Verlängerung des Lebens durch chemische Verwandlungen, durch Hilfe der ersten Materie, die man in Destillierkolben gefangen zu haben meinte, erhalten werden könnte.
    Eine tiefe Stimme führte den Absatz zu Ende:
Scharlatane sind erschienen, die durch astralische Salze, Goldtinkturen, Wunder- und Luftsalzessenzen, himmlische Betten und magnetische Zauberkräfte den Lauf der Natur zu hemmen versprechen.
    Helene schrak zusammen. Sie hatte Vogt nicht kommen hören. Er stand am Türrahmen gelehnt und grinste spöttisch. »Ich kann diesen Dreck auswendig«, sagte er mit schwerer Zunge. »Aber es geht noch weiter.« Mit drei Schritten war er bei ihr, riss ihr das Journal aus den Händen und begann, mit großer Geste zu rezitieren. Dabei wehte der Geruch von billigem Branntwein zu ihr herüber:
    Aber nicht genug, dass man die Chemie und die Geheimnisse des Geisterreichs aufbot, um unsere Tage zu verlängern. Man suchte, durch Einfüllung eines frischen jungen Blutes das Leben der Menschen zu verjüngen, zu verlängern, indem man zwei Blutadern öffnete und vermittelst eines Röhrchens das Blut aus der Pulsader eines anderen lebenden Geschöpfes in die eine leitete. Aber da man nur die unheilbarsten und elendsten Menschen dazu nahm, so trug es sich bald zu, dass einige unter der Operation starben.
    |238| Wütend schüttelte er das Journal in der Luft, als könne er ihm mit der Bewegung die Worte entreißen, schließlich zerfetzte er es, brüllte: »Elender Verräter!«, und warf die Schnipsel durch das offene Fenster auf die Straße. »Strebt dasselbe Ziel an und wagt es, über Dinge herzuziehen, denen er sich nicht zu nähern traute. Wenn er glaubt, diese Schmiererei bliebe ohne Folgen, hat er sich geirrt!«
    Helene erschrak. Mehr über seine Wut als über die Bedeutung der hinausgeschleuderten Worte. Sie drückte sich in die Chaiselongue. Wenn Johann getrunken hatte, war er zu allem fähig.
    Von der Straße erklang laute Musik. Einige stimmten das Lied
Ein freies Leben führen wir
an, immer mehr schlossen sich an, bald sang ein hundertfacher Chor.
    »Endlich«, rief Vogt aus und lehnte sich aus dem Fenster. »Die hohen Herren haben geglaubt, man könne ohne Aufsehens die geheimen Orden verbieten, nun sieh nur, welch Widerstand sich erhebt.« Und er schwenkte die Hand, als hielte er eine Fahne, und brüllte hinaus in die Nacht. »Vivat! Es lebe die Freiheit!«
    Die Musik wurde lauter. Unten auf der Straße erhob sich Lärm, als breche dort ein Tumult aus.
    Helene trat neben ihren Mann und sah hinaus zum Platz. Was sie dort erblickte, machte ihr Angst. Wo sonst gesellig gefeiert wurde, trieben nun aufgebrachte Studenten durch die Gassen, die zum Marktplatz führten. Dicht aneinandergedrängt, skandierten sie ihre Parolen. Sie liefen durch die Stadt in der Kleidung ihrer Landsmannschaften, mit angesteckten blau-weiß-roten Kokarden, mit roten Mützen oder einer Haartracht nach Art der Sansculotten. Einige Bürger reihten sich ein, auch Gassenjungen übelster Art.
    In vielen Häusern am Marktplatz und in den zuführenden Straßen brannten Lichter in den Fenstern. Menschen standen dort und winkten den Lärmenden zu, andere riefen, die Aufrührer sollten verschwinden, wurden jedoch mit Steinwürfen dazu gebracht, augenblicklich die

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