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Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Koschyk
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der Hand. »Du bist nur zu stolz, um zu bitten.«
    Damit drehte sie sich um, nahm die kleine Henriette mit sich und zog den Vorhang zu.
    Einen Augenblick dachte Hahnemann nach, ob seine Frau recht hatte, erkannte ein Fünkchen Wahrheit in ihrer Rede und verdrängte das aufkeimende schlechte Gewissen in den hintersten Winkel seines Geistes. Es ging um mehr als um die Ernährung einer einzelnen Familie. Es ging um die Aufklärung einer von medizinischer Ruhmsucht beherrschten Welt.
    Er hatte all den gängigen Kuren abgeschworen, sich von den neuen Methoden distanziert, die seine Kollegen mit gelehrtem Geschwätz verbreiteten, und sich einzig und allein auf seinen Verstand und seine Beobachtungsgabe verlassen.
    Die Verwendung von Teemischungen und kalten Bädern mit Zusätzen hatte er als besonders heilbringend empfunden, dazu einfachste Grundsätze der Hygiene als auch vernünftige Kost. Über all diesem stand die Bewegung an frischer Luft, die auch er regelmäßig ausübte, um seinen Körper zu kräftigen. Die Natur erwies sich als bester Therapeut, mit Löwenzahn, Wermut, Hopfen, Salbei, Scharfgarbe, der ganzen Welt der Pflanzen. Manchmal waren Auszüge von Mineralen vonnöten, so behandelte er eiternde Wunden mit Arsenikwasser und venerische Krankheiten mit einem eigens entwickelten milden Quecksilberpräparat, das allgemeine Anerkennung und vielfache Nachahmer fand.
    In Dresden hatte er die Patienten seines ernstlich erkrankten |224| Kollegen, des Stadtphysikus Wagner, behandeln dürfen und dabei alle Heilmethoden wissbegierig aufgesogen, von denen er in Spitälern und Apotheken oder in den Büchern der kurfürstlichen Bibliothek erfuhr. Die praktische Heilkunde war zur elenden Brotklauberei verkommen. Zur Symptomübertünchung, zum erniedrigenden Rezeptehandel. Der allgegenwärtige John Brown war inzwischen verstorben, doch seine haltlosen Thesen, in denen er die Entstehung von Krankheiten einzig als Folge zu starker oder zu schwacher Reize erklärte, verbreiteten sich wie ein Geschwür, das sich tief in die medizinische Wissenschaft fraß. Nun war es der Edinburgher Professor William Cullen, der mit seiner zweibändigen Arzneimittellehre danach strebte, Browns Platz im Olymp der hippokratischen Erben einzunehmen, und seinen Zeitgenossen mit wohlklingenden Phrasen ein mehr als zweifelhaftes Wissen vorgaukelte.
    Sollte er, Hahnemann, sich den Quacksalbern anschließen, nur um sich eine Bleibe in Leipzig leisten zu können, in einer Stadt, vor deren steter Teuerung, schlechter Luft und hohem Mietzins sie im vergangenen Jahr geflohen waren? Die Landluft hatte seine stets kränkelnden Kinder stark gemacht, sollte er sie wieder in die dumpfe Stadtluft sperren?
    »Nein«, flüsterte er und sah in das Licht der Kerze. Und doch wusste er, dass es so nicht weiterging.
    Hahnemann faltete die Hände, und während er in die Flamme starrte, wünschte er sich einen ruhigen Ort, nicht allzu teuer, wo er praktizieren und doch als Gelehrter seine Kenntnisse erweitern konnte, wo er sich mit guten Menschen umgeben und seine Kinder gerade und vernünftig erziehen konnte.
    Eine Weile hing er seinen Träumen nach, dann setzte er sich auf und öffnete den Brief.
     
    Liebster Freund,
    heute erreichte mich die Nachricht eines besorgten Kollegen, des Leibmedicus Wichmann. Einer seiner Patienten, ein Mann von Ansehen und Stand, sei am Wahnsinn erkrankt, in seiner schlimmsten Ausprägung.
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Der sonst so vortreffliche und geistreiche Mann, ein Geheimer Kanzleisekretär, litt schon seit Jahren an Schüben der Melancholie, nun aber hat sich sein Verstand so verirrt, dass es notwendig geworden ist, ihn von der Allgemeinheit zu trennen. Eine Verdünnung der Säfte hat seinen Zustand nur kurz verbessert, ebenso der Einsatz diverser Arzneien. Selbst eine Stärkung der Galle hat ihn von seinem Leiden nicht befreien können. Nun schreit man nach Exorzismus, der Aberglaube treibt hier die absonderlichsten Blüten. Wir können nur froh sein, dass selbst die Kirche langsam Vernunft annimmt, noch zu Beginn dieses Jahrhunderts hätte man den armen Mann wohl der Besessenheit beschuldigt und verbrannt.
    Die Zustände des Tollhauses, in das der Patient gesperrt werden soll, sind indes untragbar. Die Elenden werden nur mangelhaft ernährt und in den abscheulichsten Umständen verwahrt. Man schließt sie mit Strafgefangenen und Dirnen ins selbe Haus und überlässt sie der Willkür hartherziger Aufseher. Also bat Dr. Wichmann mich um Auskunft, wie es um

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