Die Alchemie der Nacht: Roman (German Edition)
böse Absichten. Und wenn wir ehrlich sind«, er beugte sich vertraulich vor, »dann ist das sogar verständlich. Denn wer will schon zugeben, dass es an ihm selbst liegt, in einer derartigen Anstalt ausharren zu müssen?«
Mittlerweile waren sie am Ausgang angekommen. Der Direktor schüttelte Hahnemanns Hand und äußerte die Hoffnung, dass er alle Bedenken habe zerstreuen können und man sich für die Einweisung des Erkrankten in ihre Anstalt entscheiden würde. Schließlich gäbe es nur wenig Vergleichbares.
Nur mit Mühe konnte Hahnemann seinen Zorn zügeln, doch er tat es aus Sorge, man würde den Irren dafür nur noch härter züchtigen. Stattdessen verlor er sich in allgemeinen Floskeln und bestieg den Einspänner, der vor dem Eingang auf ihn wartete.
Noch während er seine Besorgungen machte, die bestellte Chinarinde abholte und einen großen Schinken erstand, konnte er die Gedanken nicht von dem Mann wenden, dessen Schicksal ihn tief getroffen hatte und der von ebenjener Rezeptur sprach, von deren Existenz er vor langer Zeit in der Bibliothek des Baron von Brukenthal erfuhr und die er inzwischen als Mär abgetan hatte.
Und noch etwas beschäftigte seine Gedanken: Er würde dem Rat Becker anbieten, selbst für eine Gesundung des Kanzleisekretärs Klockenbring zu sorgen, wenn er imstande wäre, eine passende Unterkunft zu finden.
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Aktennotiz (gekürzter Auszug) des Geheimrats des Geheimen Consiliums Christian Gottlob V. als Kommissar,
Jena,
1
. Februar
1792
»Als ich heute Nachmittag hier angekommen, habe ich mich zum ehemaligen Rektor der Akademie, dem Herrn Professor Gruner, begeben und mit ihm über die zu nehmenden Maßregeln beratschlagt. Hierbei hat derselbe mir Folgendes zu erkennen gegeben:
Die Hoffnung eines glücklichen Erfolgs der Sache (dass nämlich die Entfernung der Ordensoberen ohne Tumult abgehe und die übrigen Ordensmitglieder in Furcht erhalten würden), beruhe vornehmlich auf der Schnelligkeit und Verschwiegenheit der vorzunehmenden Expedition.«
Anlagen: Drei Stammbuchblätter, die von Ordensstudenten verfasst sind und sie als solche identifizieren; Liste der Oberen von vier Orden.
JENA
10. JUNI 1792
Helene lag wach. Durch das offene Fenster drangen die Rufe der Studenten, die durch die nächtlichen Straßen zogen. Ein lauer Wind bewegte die Vorhänge und brachte ein wenig Luft in das vom Tage erhitzte Zimmer.
Sie drehte sich um und strich über Johanns Seite, die noch immer leer war. Wie so oft. Noch jetzt, im zehnten Jahr ihrer Ehe, wusste sie nicht, wer dieser Mann wirklich war, neben dem sie Morgen für Morgen aufwachte. Auch wenn er ihr stets mit Zuvorkommenheit begegnete, so war er nicht in der Lage, ihr das Gefühl zu geben, dass sie die Frau seines Herzens war.
|234| Wenn sie sich nach Liebkosungen sehnte und ihn aus lauter Verzweiflung fragte, ob er sie noch liebe, dann schenkte er ihr Lessings
Emilia Galotti
, statt sie in den Arm zu nehmen und seiner zu versichern. Wenn sie sich wieder einmal nach Königsberg sehnte, nach dem Meer und nach dem Geruch von Salz und Fisch, den die einlaufenden Boote mit sich brachten, dann brachte er ihr Forsters
Reise um die Welt
. Ja, er wusste, wonach sie sich verzehrte, doch er versuchte, ihre Sehnsüchte mit Büchern zu stillen, mit schönen Kleidern oder der großen Wohnung am unteren Markt, in die sie vor kurzem eingezogen waren.
Sie sprachen nicht viel, und wenn, dann über Beliebiges, nicht über sich selbst. Manchmal, in den seltenen Momenten, da sie allein waren und er im Sessel saß und seine Pfeife rauchte, vermied er, sie anzusehen, blätterte lieber in den Zeitungen und Journalen.
Helene setzte sich auf und starrte in die Dunkelheit. Vor ihrer Hochzeit hatte Johann Vogt sie so heftig umworben. Je mehr sie sich darauf versteifte, bald wieder nach Königsberg heimkehren zu können, desto öfter lockte er sie mit Spaziergängen durch die Natur, Blumen, die er für sie pflückte, und mit Worten, die ihr Herz erwärmten. Er tröstete sie, wenn das Bild des toten Theologieprofessors sich in ihre Erinnerung drängte, war bei ihr, wenn sie Albert vermisste. Immer wieder sprach er von ihrer gemeinsamen Zukunft, malte ein Bild von ihr an seiner Seite, sah sich selbst dabei auf dem Weg zum bedeutendsten Wissenschaftler dieser Zeit, dem Entdecker der allheilenden Arznei. Johann Vogt hatte sie eingehüllt in Nähe und Zuversicht, und eines Tages war Helene erwacht, satt vor Glück und Liebe, und hatte erkannt,
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