Die Alchemie der Naehe
Gefühl hattest, von deinen Gedanken in die Tiefe gezogen zu werden, diesen Druck auf dir spürtest, Beklemmungen hattest, so als bekämst du nicht genügend Luft.
Aber du behieltst den Rhythmus bei, denn du konntest auf nichts verzichten, verdammt noch mal â nicht jetzt, so kurz vor dem Sieg. Die Arme bewegten sich, die Beine bewegten sich, und nach hundertzwanzig Metern hattest du so gut wie keine Gegner mehr.
Es fehlte nur noch ein winziges Stück.
Doch auch wenn die Reflexe, die du dir antrainiert hattest, deinen Körper in die Lage versetzten, seine Aufgabe zu erfüllen, wurde dein Kopf von Gedanken an sie zermartert: Wie enttäuscht sie sein würde, weil du nicht verzichtet hattest. Wie verloren und überflüssig sie sich erst fühlen musste, wenn du an den Landesmeisterschaften teilnahmst. SchlieÃlich hatte sie niemanden auÃer dir, und wenn es etwas gab, das du dir wirklich nicht erlauben konntest, dann sie im Stich zu lassen. Das war vollkommen ausgeschlossen.
Dein Sieg ist zum Greifen nah, als du spürst, dass dein Körper grausamerweise beschlieÃt, seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Du bekommst Krämpfe in Händen und FüÃen oder glaubst, welche zu haben. Und anstatt Luft zu holen, ahnst du, dass eine Katastrophe unmittelbar bevorsteht, die dich in die Tiefe zieht. Trotz der synchronen Bewegungen machst du keine Anstalten, langsamer zu werden, und trotz deiner Ãberzeugung, dass du es am Ende doch noch schaffen wirst â vielleicht! â, ist diese Gewissheit nur von kurzer Dauer. Denn inmitten dieser Dunkelheit greift etwas nach dir â nach deinen Händen und Armen â und zieht dich aus dem Wasser, holt dich gewaltsam heraus, zwingt dich auf den Rücken und schüttelt dich. Laute ertönen, deren Klang und Bedeutung dir fremd sind, während sich eine unwirkliche Stille breitmacht.
Dunkelheit. Kälte. Dunkelheit.
»Atmen!«, ruft jemand, der sich mit gefühlten vier Händen auf dich und deinen Brustkorb stürzt.
Dann wirst du geohrfeigt, logisch, und das gefällt dir offen gesagt ganz und gar nicht.
59
Das Erste, was du wahrnahmst, war diese Frauenhand auf deinem Bauch â schlanke, lange Finger einer dir wohlbekannten Hand, die dir niemals wehtun würde; und dann ihr tränenüberströmtes Gesicht, das dir schier das Herz zerriss.
»Schau mich an!«, sagte die Stimme deiner Schwester. »Ich binâs, rede mit mir!« Ihr Mund bedeckte Wangen und Stirn mit Küssen, aber am liebsten hättest du sie weggestoÃen, weil du ganz genau wusstest, wer wirklich an deiner Niederlage schuld war.
Wärst du nicht so todmüde und erschöpft gewesen, hättest du ihr vorgeworfen, genau das gewollt zu haben. Und deshalb interessierte es dich jetzt kein bisschen, ob sie sich entschuldigte oder um ihren Bruder sorgte.
Du schämtest dich und fühltest dich wieder mal wie Meister Geppetto, wie ein Totalversager.
Sie trat etwas zurück, versuchte zitternd deine Haare glatt zu streichen. Ohne dich auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, liebkoste sie dich, während ihre Tränen in einem heftigen Kontrast zu dem erleichterten Lächeln auf ihrem Gesicht standen ⦠»Lass das!«, mehr brachtest du nicht heraus, damit sie endlich ging.
Und dann betraten eure Eltern und ein Arzt mit breitem Brustkorb die Krankenstation des Schwimmbads und machten diesem Kontrast ein Ende.
Der Arzt trat mit einem aufmunternden Lächeln auf dich zu und hörte dein Herz ab. Nachdem er dir eine Manschette umgelegt hatte, maà er deinen Blutdruck.
Der Arzt sah erst dich an und dann deine Eltern. »Alles bestens«, sagte er schlieÃlich und verstaute seine Instrumente in einem Köfferchen mit Elfenbeingriff. »Alles ganz harmlos. Er hat hyperventiliert und ist ohnmächtig geworden. Wegen der groÃen Anstrengung, die er sich zugemutet hat und der auÃergewöhnlichen psychischen Belastung. Wenn er sich kurz ausruht, kommt alles ganz von selbst wieder in Ordnung. SchlieÃlich ist er ein junger, gesunder Sportler. Und falls es Sie beruhigen sollte«, fügte er lächelnd hinzu, »kann ich ihn in den nächsten Tagen gern noch mal in der Notaufnahme untersuchen.« Daraufhin bedankten sich deine Eltern wortreich, und deine Mutter stellte eine Frage, die du nicht mitbekamst. Noch hattest du dich nicht aufgesetzt. Du hattest die
Weitere Kostenlose Bücher