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Die Alchemie der Naehe

Die Alchemie der Naehe

Titel: Die Alchemie der Naehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gaia Coltorti
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Gefühl hattest, von deinen Gedanken in die Tiefe gezogen zu werden, diesen Druck auf dir spürtest, Beklemmungen hattest, so als bekämst du nicht genügend Luft.
    Aber du behieltst den Rhythmus bei, denn du konntest auf nichts verzichten, verdammt noch mal – nicht jetzt, so kurz vor dem Sieg. Die Arme bewegten sich, die Beine bewegten sich, und nach hundertzwanzig Metern hattest du so gut wie keine Gegner mehr.
    Es fehlte nur noch ein winziges Stück.
    Doch auch wenn die Reflexe, die du dir antrainiert hattest, deinen Körper in die Lage versetzten, seine Aufgabe zu erfüllen, wurde dein Kopf von Gedanken an sie zermartert: Wie enttäuscht sie sein würde, weil du nicht verzichtet hattest. Wie verloren und überflüssig sie sich erst fühlen musste, wenn du an den Landesmeisterschaften teilnahmst. Schließlich hatte sie niemanden außer dir, und wenn es etwas gab, das du dir wirklich nicht erlauben konntest, dann sie im Stich zu lassen. Das war vollkommen ausgeschlossen.
    Dein Sieg ist zum Greifen nah, als du spürst, dass dein Körper grausamerweise beschließt, seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Du bekommst Krämpfe in Händen und Füßen oder glaubst, welche zu haben. Und anstatt Luft zu holen, ahnst du, dass eine Katastrophe unmittelbar bevorsteht, die dich in die Tiefe zieht. Trotz der synchronen Bewegungen machst du keine Anstalten, langsamer zu werden, und trotz deiner Überzeugung, dass du es am Ende doch noch schaffen wirst – vielleicht! –, ist diese Gewissheit nur von kurzer Dauer. Denn inmitten dieser Dunkelheit greift etwas nach dir – nach deinen Händen und Armen – und zieht dich aus dem Wasser, holt dich gewaltsam heraus, zwingt dich auf den Rücken und schüttelt dich. Laute ertönen, deren Klang und Bedeutung dir fremd sind, während sich eine unwirkliche Stille breitmacht.
    Dunkelheit. Kälte. Dunkelheit.
    Â»Atmen!«, ruft jemand, der sich mit gefühlten vier Händen auf dich und deinen Brustkorb stürzt.
    Dann wirst du geohrfeigt, logisch, und das gefällt dir offen gesagt ganz und gar nicht.

59
    Das Erste, was du wahrnahmst, war diese Frauenhand auf deinem Bauch – schlanke, lange Finger einer dir wohlbekannten Hand, die dir niemals wehtun würde; und dann ihr tränenüberströmtes Gesicht, das dir schier das Herz zerriss.
    Â»Schau mich an!«, sagte die Stimme deiner Schwester. »Ich bin’s, rede mit mir!« Ihr Mund bedeckte Wangen und Stirn mit Küssen, aber am liebsten hättest du sie weggestoßen, weil du ganz genau wusstest, wer wirklich an deiner Niederlage schuld war.
    Wärst du nicht so todmüde und erschöpft gewesen, hättest du ihr vorgeworfen, genau das gewollt zu haben. Und deshalb interessierte es dich jetzt kein bisschen, ob sie sich entschuldigte oder um ihren Bruder sorgte.
    Du schämtest dich und fühltest dich wieder mal wie Meister Geppetto, wie ein Totalversager.
    Sie trat etwas zurück, versuchte zitternd deine Haare glatt zu streichen. Ohne dich auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen, liebkoste sie dich, während ihre Tränen in einem heftigen Kontrast zu dem erleichterten Lächeln auf ihrem Gesicht standen … »Lass das!«, mehr brachtest du nicht heraus, damit sie endlich ging.
    Und dann betraten eure Eltern und ein Arzt mit breitem Brustkorb die Krankenstation des Schwimmbads und machten diesem Kontrast ein Ende.
    Der Arzt trat mit einem aufmunternden Lächeln auf dich zu und hörte dein Herz ab. Nachdem er dir eine Manschette umgelegt hatte, maß er deinen Blutdruck.
    Der Arzt sah erst dich an und dann deine Eltern. »Alles bestens«, sagte er schließlich und verstaute seine Instrumente in einem Köfferchen mit Elfenbeingriff. »Alles ganz harmlos. Er hat hyperventiliert und ist ohnmächtig geworden. Wegen der großen Anstrengung, die er sich zugemutet hat und der außergewöhnlichen psychischen Belastung. Wenn er sich kurz ausruht, kommt alles ganz von selbst wieder in Ordnung. Schließlich ist er ein junger, gesunder Sportler. Und falls es Sie beruhigen sollte«, fügte er lächelnd hinzu, »kann ich ihn in den nächsten Tagen gern noch mal in der Notaufnahme untersuchen.« Daraufhin bedankten sich deine Eltern wortreich, und deine Mutter stellte eine Frage, die du nicht mitbekamst. Noch hattest du dich nicht aufgesetzt. Du hattest die

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