Die Alchemie der Naehe

maßgeschneidertes Schutzkorsett, auch wenn das in diesem Moment der Konzentration das Letzte war, woran du dachtest.
    Du suchtest nach deiner Familie. Auf der rechten Zuschauertribüne entdecktest du sofort deine Eltern, die dir kurz zuwinkten, und Selvaggia. Trotz allem hattest du gehofft, so etwas wie Ermutigung auf ihrem Gesicht zu sehen, aber deine Hoffnung zerschellte an ihrem herausfordernden Blick, mit dem sie dich traktierte. Daraufhin konzentriertest du dich aufs Aufwärmen. Doch so fest du auch vorhattest, am Wettkampf teilzunehmen und ihn zu gewinnen, hörtest du gleich wieder damit auf – ganz einfach weil ein Teil von dir kapitulieren wollte, wie du erstaunt feststelltest. »Das ist doch absurd«, sagtest du dir, zwangst dich, dieses verhängnisvolle Gefühl zu verdrängen und ließt dich ins lauwarme Wasser hinab.
    Erst da stand dir plötzlich glasklar vor Augen, warum Selvaggia nicht müde wurde, so viel von dir zu verlangen. Es war das Wasser in deiner Bahn, mit seinen zum Greifen nahen Reflexen, die dir ins Auge stachen und dir zu verstehen gaben, was du längst hättest wissen können, dir aber bisher verborgen geblieben war. Du konntest hier sein, genau hier, zu Füßen des Startblocks, während deine Hände sich am Beckenrand festhielten, dein Körper entspannt war, deine Fußspitzen aus dem Wasser ragten und die Sohlen sich an die Beckenwand schmiegten, weil deine Leidenschaft durch nichts zerstört worden war. Weil du noch gewinnen konntest. Doch sie hatte nichts Vergleichbares mehr. Ihr war rein gar nichts mehr geblieben, während du, wenn du den verdammten Wettkampf gewannst, an den Landesmeisterschaften teilnehmen würdest. Dein absoluter Traum! Aber wenn du an den Landesmeisterschaften teilnahmst, würdest du sie zwangsläufig vernachlässigen müssen, und diesen logischen, weitreichenden Schluss, der dir erst jetzt dämmerte, musste auch Selvaggia gezogen haben! Als dir klar wurde, dass sie Angst hatte, verlassen zu wer den, wurdest du unsäglich traurig. Hinter ihrer Arroganz, ihrer Wut, ihrer Provokation steckten also nur heimliche Ängste und Verletzlichkeit. Und obwohl du ihr gezeigt hattest, dass du auch in schwierigen Momenten für sie da warst, musste sie, die sich bestimmt immer noch wie ein Klotz am Bein fühlte, natürlich denken, dass sich die meisten normalerweise irgendwann davon befreien wollten! Das war es also! Verwirrt gestandst du dir ein, dass diese Gedanken bestimmt nicht dazu angetan waren, dich auf diesen verdammten Wettkampf vorzubereiten.
    Deine Gegner hatten bereits ausnahmslos ihre Startpositionen eingenommen, alle um dich herum waren bereit, und Selvaggias Blick ruhte auf dir. Das wusstest du, auch wenn du es nicht sehen konntest, und du brachst förmlich unter ihrer Last zusammen.
    Seltsame Beklemmungen lähmten dich, und du konntest dir nur immer wieder sagen, dass du dich nicht von deinen Gefühlen fortreißen lassen durftest. Du warst nämlich gut und wusstest, dass du die besten Chancen hattest, ja dass dich nicht mal dein größter Gegner einholen würde. Du musstest bloß einen klaren Kopf behalten und durftest die Kontrolle nicht verlie ren, dann würde alles gut gehen. Rückenschwimmen über zwei hundert Meter war schon immer deine Stärke gewesen, und nichts konnte dich aufhalten. Höchstens Selvaggia.
    Dir blieb keine Zeit, an etwas anderes zu denken, weil der Startpfiff bereits von der Decke widerhallte, dir einen Adrenalinstoß versetzte und dazu führte, dass du dich abstießt und den Rücken durchbogst, damit das Eintauchen ins Wasser und die Gleitphase dank des richtigen Eintauchwinkels genauso ausfielen wie gewünscht: kräftig und durchschlagend.
    Die ersten Armzüge, die dazu dienten, deine Lage im Wasser zu stabilisieren, und die sofort fließender, tiefer, schneller werden müssen: Eintauchen – Ziehen – Drücken – Zurückholen; Eintauchen – Ziehen – Drücken – Zurückholen. Deine Gegner ignorieren und bereits nach der ersten Bahn vorn liegen. Einatmen – rechter Armzug, Ausatmen – linker Armzug; einatmen – rechter Armzug, Ausatmen – linker Armzug. Und dann immer so weiter, allein in Führung bleiben, Beinschlag nach oben, Beinschlag nach unten, ohne dass dir irgendjemand in die Quere kommt: Und genauso lief es auch, obwohl du das