Die Alchemie der Naehe

lange dauerte, bis ihr euch in der ultimativen Welt, die nur euch gehörte, wiederbegegnen durftet! Der Gedanke daran ließ dich einfach nicht mehr los.
    Als ihr kurz vor dem Abendessen nach Hause kamt, war dir, als würde das Band zwischen euch sofort zerreißen.
    In Gegenwart eurer Eltern schien Selvaggia dich erneut keines Blickes zu würdigen, obwohl sie bis kurz vor Betreten des Hauses nur Augen für dich gehabt hatte: Schließlich warst du ihr neuer Lebensmittelpunkt. Doch jetzt beschränkte sie sich darauf, den Tisch zu decken und mit eurer Mutter zu plaudern, ihr euren angeblichen Tag in Verona zu schildern. Immer wieder hast du versucht, ihr einen bohrenden Blick zuzuwerfen: Doch sie tat so, als bemerkte sie ihn gar nicht, ja, als fühlte sie sich durch diese unnötige Provokation gestört. Zumindest war das dein Eindruck.
    Beim Abendessen hast du wie schon so oft den Versuch unter nommen, ihre Beine unter dem Tisch zu berühren, sie aber nicht gefunden, weil sie sie unter ihrem Stuhl in Sicherheit gebracht hatte. Anscheinend wollte sie nicht belästigt werden. Du fragtest dich, ob das normal sei, und machtest dir weis, sie wolle bestimmt nur ein bisschen Ruhe haben und ihren eigenen Gedanken nachhängen.
    Gleich nach dem Abendessen verschwand sie ins Bett, und du wartetest sehnsüchtig darauf, dass deine Eltern schliefen, bevor du nach oben gingst. Trotz allem zog es dich zu ihr, und leise klopftest du an ihre Tür. Doch es kam keine Reaktion.

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    Selvaggia schien die Sache allerdings buchstäblich überschlafen zu haben, da ihr Verhalten am nächsten Tag mehr als eindeutig war. Sie strotzte nur so vor Energie und war in absoluter Hochform, was sie dir gerade im Bett überzeugend demonstriert hatte.
    Ihr hattet in der Via Anfiteatro gerade zum vierten Mal in zwei Tagen miteinander geschlafen, als ihr euch ein wenig nebenein ander ausruhen wolltet. Schweigend hingt ihr euren Gedanken nach.
    An diesem Vormittag wart ihr wie ausgehungert überein ander hergefallen – du hattest brennende Kratzwunden an Schultern (zwei) und unterem Rücken (unzählige). Ihr hattet beschlossen, die Fensterläden zuzulassen, weil ihr ausprobieren wolltet, ob man den geliebten Menschen ohne Licht besser spürte, seinen Duft intensiver wahrnahm, wenn sich Geschmäcker, Gerüche und Berührungen im Halbdunkel gegenseitig verstärkte und man in ein Meer aus Lust eintauchte, das man sehenden Auges gar nicht bemerkte. Außerdem mochtest du das sowieso, denn das Halbdunkel hatte etwas Geheimnisvolles, Feierliches und ließ die Liebesschwüre – hört, hört! –, die du deiner Schwester zuflüstertest, gleich viel überzeugender klingen.
    Normalerweise warst du eher wortkarg, und selbst wenn dir ein Mädchen wirklich gefiel, kam dir so schnell keine Liebeserklärung über die Lippen. Aber bei Selvaggia war das anders: Bei ihr machtest du gern viele Worte, und es gab Momente, die dir sinnlos vorkamen, wenn du ihr nicht deine Liebe versichertest und ihre Haare auf dem Rücken spürtest, während sie dir in den Hals biss und dich schier wahnsinnig machte mit ihrer göttlichen Schönheit. Aber vielleicht sah Selvaggia in deiner Wortakrobatik nur eine Art Spiel, das weder besonders einfallsreich noch aufregend war. Manchmal neigtest du tatsächlich dazu, ein bisschen zu dick aufzutragen. Doch es war die Liebe, die dich zwang, dich auf das Terrain wenig wertvoller, pubertärer, ja einfältiger Dichtkunst vorzuwagen.
    Manchmal machte Selvaggia den Anfang und forderte dich auf, sie zu erkunden. Und manchmal nahm sie überhaupt keine Rücksicht auf dich. Dann bemächtigte sie sich deines Mundes und misshandelte dich beinahe – vermutlich um dich zum Schweigen zu bringen.
    Ja, im Grunde hast du das immer gewusst.
    Aber wenn alles vorbei war, wenn sie das Bett verließ, sich anzog und ihr gemeinsam auf den Boden der Tatsachen zurückkehrtet, schien Selvaggia sich nicht nur körperlich, sondern auch seelisch von dir zu lösen. Auf einmal warst du wie Luft für sie: Sie ignorierte dich, und wenn du einen Annäherungsversuch wagtest, wich sie zurück. Ganz so als würde eine obskure Alchemie für gegenseitige Anziehung sorgen, sobald ihr allein wart, die anschließend allerdings wieder von einer seltsamen Gleichgültigkeit abgelöst wurde – zumindest von ihrer Seite aus.
    Eure inzestuöse